Sonntag, Oktober 29, 2006

So ist Gott

Beim Eintauchen in die Berglehre, die Gleichnisse von Jesus und beim persönlichen Ergehen sind mir folgende Worte zugefallen und wichtig geworden:

So ist Gott:
Er liebt den Armen, Hilflosen und Schwachen.
Er sucht den Gebrochenen, Verletzten und Verlorenen.
Er begegnet dir, wenn du nichts mehr vorzuweisen hast.
Dort ist er für dich da:
Einfach so.

Labels: , , ,

Montag, Oktober 23, 2006

Die Berglehre von Jesus

Jesus war Jude und seine Zuhörer und Nachfolger waren es damals auch. Das heisst alles, was er sagte, basierte auf dem Alten Testament, besonders auf dem Gesetz/Weisung ("Tora", die fünf Bücher Mose) und den Profeten (alle übrigen Bücher des AT), das er und seine Zuhörer von Kind an gehört, auswendig gelernt und verinnerlicht hatten. Vieles muss ihnen daher bekannt vorgekommen sein, weil Jesus Worte, Themen und Aussagen des AT aufgriff, besonders aus Exodus (2. Buch Mose), Deuteronomium (5. Buch Mose) und aus den Psalmen.
Jesus hat damals in aramäischer Sprache gesprochen, was dem Hebräischen sehr nahe kam. "Selig" heisst in Hebräisch „asch're“ und bedeutet auch "Glück, glücklich, Heil, Seligkeit oder Wohl" und kommt in zahlreichen Stellen des Alten Testaments vor, so auch in folgenden:

Psalm 1,1 & 2: Selig(keit) der Mann, der nicht wandelt im Rat der Bösen, noch sitzt im Kreis der Spötter, sondern hat Gefallen an der Weisung Jahwes und raunt (oder: murmelt, spricht leise) darüber nach Tag und Nacht.
Psalm 2,12b: Seligkeit (oder: Heil) allen, die sich bergen bei ihm (=Jahwe)!
Psalm 32,1: Wohl, wem verziehen wurde Vergehen, zugedeckt Sünde.
Psalm 32,2: Wohl dem Menschen, dem Jahwe nicht Missetat anrechnet.
Psalm 34,9b: Wohl dem Mann, der sich in ihm (=Jahwe) birgt.
Psalm 112,1b: Heil dem Mann, der Jahwe fürchtet, an seinen Geboten hat er sehr Gefallen!
Psalm 119,1 & 2: Selig, die untadeligen Weges sind, die wandeln nach der Weisung Jahwes!
Selig, die bewahren seine Zeugnisse, die ihn mit ganzem Herzen suchen!

An vielen Stellen des Alten Testament ist vom "Tun-Ergehen-Zusammenhang" die Rede, vom kausalen Prinzip des "wenn" und "dann". (Am stärksten in Dt 30,15-20: Siehe! Heute habe ich dir Leben und Heil, Tod und Unheil vor Augen gestellt. Wenn du den Geboten Jahwes, deines Gottes, gehorchst, die ich dir heute anbefehle, ...) Das kausale Prinzip beinhaltet die Gefahr der Selbstgerechtigkeit und Ueberheblichkeit: z. B. der betende Pharisäer in Lukas 18,9-14.
Jesus greift all dies in der Bergpredigt auf, aber bleibt nicht dort stehen, sondern verändert die Blickrichtung und stellt Gott und das Himmelreich in die Mitte:
(Das Matthäusevangelium kann auch als Evangelium vom Himmelreich verstanden werden, die Bergpredigt als Verkündigung der Charta des Himmelreichs. Anmerkung in Jerusalemer Bibel)

Selig die Armen im Geist, denn ihrer ist das Reich der Himmel. Das ist eine Anknüpfung an Psalm 34,19: Nahe ist JaHWeH den gebrochenen Herzen und einem zerschlagenen Geist hilft er auf.
Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden. Erinnert an Ps 126,5: "Die in Tränen säen, sie werden ernten in Freude." oder an Jesaja 61,2: Der Messias tröstet Trauernde...
Selig die Sanftmütigen, denn sie werden als Besitz empfangen die Erde. Erinnert an Psalm 37,11: Und die Sanftmütigen werden Land besitzen, und sie werden sich laben an der Fülle des Friedens.
Selig die Hungernden und Dürstenden nach Gerechtigkeit denn sie werden gesättigt werden. Erinnert an Psalm 119,123: Nach deiner Hilfe schmachten meine Augen voll Sehnsucht, nach der Gerechtigkeit...
Selig die Barmherzigen, denn sie werden mit Erbarmen beschenkt werden. Es liegt hier keine unmittelbare Anknüpfung an eine AT-Stelle vor, aber Barmherzigkeit, "racham" gehört zum Gehalt des AT!
Selig die Reinen im Herzen, denn sie werden Gott sehen. Erinnert an Ps 24,3+4: Wer wird hinaufsteigen auf den Berg JaHWeHs und wer wird stehen an der Stätte seines Heiligtums? Ein Unschuldiger an Händen und Reiner im Herzen, der seine Seele nicht zu Eitlem erhoben und nicht falsch geschworen hat.
Selig die Friedensstifter, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden. Es liegt hier keine unmittelbare Anknüpfung an eine AT-Stelle vor, aber Frieden, "schalom" gehört zum Kerngehalt des AT!
Selig die Verfolgten wegen Gerechtigkeit, denn ihrer ist das Reich der Himmel.
Selig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen und sagen alles Böse gegen euch, sie lügen meinetwegen. Freut euch und frohlocket, denn euer Lohn ist gross im Himmel. Denn so haben sie auch die Propheten vor euch verfolgt.

"Die Bibel muss ausgelegt werden. Wenn sie nicht ausgelegt wird, kann sie auch nicht in die Tat umgesetzt werden. Wenn es uns also ernst ist mit Gott, dann müssen wir die Bibel auslegen. Man kann nicht "einfach tun, was die Bibel sagt". Man muss erst einmal festlegen, was das für uns bedeutet. ... Die alten Rabbis verstanden, dass die Bibel noch nicht abgeschlossen ist und interpretiert werden muss. Und sie verstanden, dass ihre Rolle in der Gemeinschaft darin bestand, zu forschen und zu meditieren, zu beten und zu diskutieren und dann eben ihre Entscheidungen zu treffen. Rabbis sind wie Dolmetscher, die den Menschen helfen zu verstehen, was Gott ihnen durch den Text sagt und was es bedeutet, den Text ins Leben umzusetzen. ... Man beachte, was Jesus in einer seiner ersten Botschaften sagt: "Meint nur nicht, ich bin gekommen, das Gesetz ... aufzuheben. Im Gegenteil, ich werde es voll zur Geltung bringen und erfüllen." Damit meint er im Wesentlichen: "Ich bin nicht gekommen, das Wort Gottes abzuschaffen; ich bin gekommen, den Menschen zu zeigen, wie es aussieht, wenn das Gesetz vollkommen ausgelebt wird, bis ins kleinste i-Tüpfelchen. Ich bin hier, um den Worten Fleisch und Blut zu verleihen." ... Ein Rabbi, der mit shmikah (hebräisches Wort für Vollmacht) lehrte, sagte beispielsweise: "Ihr habt es so gehört ... aber ich sage euch ..." (steht in Matthäus 5,21 & 22 & 27 & 28 & 31-34 & 38 & 39 & 43 & 44!). Damit will er sagen: "Ihr habt eine bestimmte Auslegung dieses Verses gehört, aber ich sage euch, was Gott eigentlich mit diesem Vers meint." Die Rabbis hatten einen Fachausdruck für diesen endlosen Prozess des Verbietens und Erlaubens und Interpretierens. Bei ihnen hiess das "binden und lösen". Etwas zu "binden" hiess, es zu verbieten. "Lösen" hiess, etwas zu erlauben (Jesus zu Petrus in Matthäus 16,19 und allgemein in 18,18)... Hier passiert etwas Bedeutsames. Er gibt Menschen, die sich an ihm orientieren, die Vollmacht, die Bibel neu zu interpretieren. Er gibt ihnen die Erlaubnis zu sagen: "Das haben wir an diesem Vers bisher nicht beachtet. Kürzlich erst sind wir zu dem Schluss gekommen, dass er eigentlich das und das bedeutet."
Rob Bell in "Jesus unplugged" Brunnen Giessen 2006 (Ausschnitte von Seite 41-45)

Labels: , , , , , , , , , , ,

Sonntag, Oktober 22, 2006

Ein Gedicht von Billy Collins

Zehn werden

Die blosse Vorstellung lässt mich so fühlen
als ob ich mir etwas einfange
das schlimmer ist als jeder Magenschmerz
oder das Kopfweh, das ich bekomme, wenn ich in schlechtem Licht lese –
Eine Art Masern des Geistes,
Mumps der Psyche,
hässliche Seelen-Windpocken.

Du sagst, es sei zu früh für einen Rückblick,
aber das liegt daran, dass du vergessen hast:
die vollkommene Schlichtheit, eins zu sein,
und die wundervolle Komplexität, die die Zwei bringt.
Aber ich kann in meinem Bett liegen und mich an jede Ziffer erinnern.
Mit vier war ich eine arabischer Zauberer.
Ich konnte mich unsichtbar machen,
indem ich ein Glas Milch auf eine bestimmte Weise trank.
Mit sieben war ich Soldat, mit neun Prinz.

Aber jetzt stehe ich meistens am Fenster und schaue in das Licht des Spätnachmittags.
Früher fiel es nie so feierlich auf mein Baumhaus,
und mein Fahrrad stand nie an die Garage gelehnt, so wie heute,
die ganze dunkelblaue Geschwindigkeit herausgetropft.

Das ist der Beginn der Traurigkeit, sage ich mir,
während ich das Universum in meinen Turnschuhen durchquere.
Es ist Zeit, meine imaginären Freunde zu verabschieden,
Zeit für die erste grosse Zahl.

Es kommt mir so vor, als hätte ich noch gestern geglaubt,
dass es unter meiner Haut nichts als Licht gäbe.
Wenn du mich geschnitten hättest, hätte ich geleuchtet.
Aber wenn ich jetzt auf die Gehwege des Lebens falle,
schürfe ich mir die Knie auf. Ich blute.

Labels: , , , , , , ,

Eine berührende Geschichte von Parker Palmer

Ein dreijähriges Mädchen war die Erstgeborene und das einzige Kind in ihrer Familie. Doch nun wurde ihre Mutter erneut schwanger, und das Mädchen war sehr aufgeregt, weil sie einen neuen Bruder oder eine neue Schwester bekommen sollte. Wenige Stunden, nachdem die Eltern mit dem neugeborenen Jungen aus der Klinik nach Hause kamen, hatte das
Mädchen eine Bitte: Sie wollte allein mit ihrem neuen Bruder in dessen Zimmer sein, bei
geschlossener Tür. Sie bestand darauf, dass sie allein mit ihm und die Tür geschlossen sein müsse, was zunächst ein wenig Unbehagen bei den Eltern verursachte. Dann fiel ihnen ein, dass sie in der Erwartung des Babys eine Gegensprechanlage installiert hatten. Also dachten sie, sie könnten der Bitte ihrer Tochter ruhig nachkommen, und bei der leisesten Andeutung, dass etwas Seltsames geschehe, wären sie im nächsten Augenblick im Zimmer. Sie liessen also das kleine Mädchen in das Zimmer des Babys, schlossen die Tür und eilten zur Gegensprechanlage. Sie konnten die Schritte ihrer Tochter durch das Zimmer hören, stellten sich vor, wie sie über die Wiege gebeugt stand, und dann hörten sie, wie sie zu ihrem drei Tage alten Bruder sagte: „Erzähle mir von Gott – ich kann mich kaum erinnern.

Labels: , , , , , , ,

Gott ist mehr!

Ab Seite 70 stellt Marcus Borg die Frage: "Gibt es Gott?" und deutet sie in Richtung von William James, der 1902 das wichtige Werk, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, geschrieben hat: "Gibt es ein "Mehr"?“ Seine eigene Antwort ist entschiedenes "Ja": „Gott ist das „Mehr““.
Er weist darauf hin, dass das moderne, naturalistische Weltbild bereits erschüttert und überholt ist durch Erkenntnisse namhafter Naturwissenschaftler.
Henry Stapp und Geoffrey Chew sagen es so: „Alles, was wir über die Natur wissen, stimmt mit der Vorstellung überein, dass sich der eigentliche Vorgang der Natur ausserhalb von Raum und Zeit vollzieht, aber Ereignisse hervorruft, die innerhalb des Raum-Zeit-Kontinuums zu finden sind.“
Ueberzeugend legt er in der Folge auch dar, dass auch der moderne, weitverbreitete übernatürliche Theismus überholt und ergänzungsbedürftig ist. Es reiche eben nicht, Gott oben im Himmel zu platzieren, irgendwo da draussen, jenseits des Universums. Das hat in der Aufklärung geholfen, die Welt zu entdecken und zu entzaubern, Gott jedoch wurde dadurch unnahbar, abwesend und gar unnötig.
Er plädiert dafür, die Transzendenz (=Uebernatürlichkeit) mit der Immanenz (=Gegenwärtigkeit) Gottes zu kombinieren. Gott sei Geist, allgegenwärtig, überall und „mehr als nur hier“. Die ganze Schöpfung ist in Gott, wie es auch in Psalm 139 beschrieben wird. Auch Paulus sprach in Apostelgeschichte 17 davon, dass wir Menschen in Gott leben. Das nennt Borg die "pantheistische" Sichtweise, die eben auch in der Bibel enthalten sei (Seite 74-80).

Labels: , , , , , , , , , , ,

Die Bibel als Sakrament verstehen

Ab Seite 67 entfaltet Marcus Borg den Gedanken, dass wir die Bibel als Sakrament verstehen sollten. Einleitend beschreibt er in kürzester Form die drei wichtigsten Abendmahlsverständnisse:
· Transsubstantiation: Brot und Wein wird in Leib und Blut Christi verwandelt (katholisch)
· Konsubstantiation: In, mit und unter Brot und Wein ist Jesus Christus anwesend (lutheranisches und anglikanisches Verständnis)
· Anamnese: Erinnerungsmahl (reformierte und freikirchliche Sichtweise)
Er kommt zum Schluss, dass es in allen drei zentral um die Vergegenwärtigung von Jesus Christus geht. Um die gleiche Intention geht es ihm bei der These von der Bibel als Sakrament:
So ist auch die Bibel ein Sakrament, ein menschliches Produkt, durch das Gott uns gegenwärtig wird. Ihre Worte werden zu einem Mittel, durch das der Geist zu uns in der Gegenwart spricht. Die Funktion der Bibel als Sakrament ist im privaten religiösen Gebrauch vielen Christen vertraut. Gemeint ist die innige Beschäftigung mit einer Bibelstelle. Man liest diese Passage nicht möglichst schnell oder zur Informationsentnahme, sondern gibt ihr Platz in der Hoffnung, dass ein Ausdruck oder ein Satz zum Medium des Geistes wird und zu uns in der Besonderheit und Alltäglichkeit unseres eigenen Lebens spricht.
Auch in einem gemeindlichen Rahmen übernimmt die Bibel sakramentale Funktion. „Lectio divina“ ist ein alter christlicher Brauch der Besinnung, wobei man eine Passage der Bibel wiederholt liest und zwischen den Wiederholungen Momente des Schweigens einlegt. Auch in christlichen Andachten kann das Lesen biblischer Texte zu einem Sakrament werden. Die Worte – menschliche Erzeugnisse – werden zu Trägern des Wortes Gottes.
Daher sagen in den Gottesdiensten vieler Konfessionen die Lektoren nach der Schriftlesung: „Wort des lebendigen Gottes“. Noch deutlicher wird es in der neuseeländischen Version des anglikanischen Book of Common Prayer. Dort sagt der Lektor: „Hört, was der Geist zur Kirche spricht.“ In diesen Beispielen fungiert die Bibel mittels Sprechen und Hören als ein Sakrament: Wir hören den Geist durch diese alten Worte zu uns sprechen.
Die sakramentale Funktion der Bibel wird auch durch die Sprache angedeutet: Es ist von „essen“, genährt werden“ und „verdauen“ die Rede. In der Bibel selbst sprechen Jeremia, Ezechiel und der Autor der Offenbarung davon, Gottes Worte zu „essen“.* Eines der traditionellen Gebete der Kirche sagt über die Worte der Bibel: „Gewähre und, dass wir sie hören, lesen, befolgen, lernen und innerlich verdauen.“ (Tagesgebet Mitte November). Die Bibel wird zur Nahrung, Gottes Wort wird zum täglichen Brot. Wie Jesus ist auch die Bibel sowohl das „Wort Gottes“ als auch das Brot des Lebens.“

* Jeremia 15,16: Dein Wort ward meine Speise, sooft ich’s empfing ...
* Ezechiel 2,9-3,3: ... da ass ich sie (=Rolle), und sie war in meinem Munde so süss wie Honig.
* Of 10,9+10: ... und ich nahm das Büchlein aus der Hand des Engels und verschlang’s ...

Zu Recht streicht Borg meiner Meinung den sakramentalen Aspekt der Bibel hervor, denn es gibt viele weitere Bibelstellen, die den nährenden Charakter des Wortes Gottes betonen und uns somit auffordern, diese Worte aufzunehmen und anzuwenden zu unserem Wohl:
· Lev 18,5: ... der Mensch, der sie (=Gottes Satzungen & Rechte) tut, wird durch sie leben;
· Dt 8,3: ... der Mensch lebt nicht vom Brot allein, vielmehr von allem, was aus dem Mund Jahwes ergeht.
· Dt 32,46+47: ... es ist nicht leeres Wort an euch, sondern es ist euer Leben, ...
· Ps 19,13: ... süsser sind seine Worte als Honig, als Honigseim aus der Wabe.
· Ps 119,103: Deine Rede, wie ist sie meinem Gaumen süss, meinem Munde süsser als Honig.
· weitere ähnliche Stellen sind: Neh 9,29; Ez 20,11; Mt 19,17; Lk 10,28; Röm 7,10 und Gal 3,12;

Labels: , , , , , , , , , ,

Marcus Borg: Heute Christ sein

Marcus Borg ist ein renommierter amerikanischer Theologe, der an der Universität von Oregon in Portland im Westen der USA lehrt. Seine familiären Wurzeln liegen in Skandinavien und deren starken lutherischen Tradition. Sein Hauptanliegen ist es, eine neue, differenzierte, nachmoderne Sichtweise des Christseins zu vermitteln, die Bedeutung des Christentums für heute zu erschliessen. Der Untertitel dieses Buches lautet "Den Glauben wieder entdecken" und ist im Jahr 2005 bei Patmos erschienen unter der ISBN-Nummer: 3-491-70387-5. (Amerikanisch lautet der Titel: The Heart of Christianity. Rediscovering a Life of faith. by HarperCollins San Francisco 2003)

Spannend beschreibt er den religiösen Paradigmenwechsel in den USA. Unter Paradigma versteht er eine umfassende Art des Betrachtens (auf Seite 14). Noch selten habe ich ein Buch gelesen, das mich einerseits so fasziniert und zugleich verunsichert und verstört hat. Einesteils weil Borg meist treffend und fundiert argumentiert, andererseits gibt er die Ausschliesslichkeit von Jesus Christus preis und bezeichnet die Auferstehung als unwichtig, nicht jedoch deren Bedeutung. Deshalb könnte man dieses Buch als liberales, historisch-kritisches Pamphlet weglegen und ignorieren, doch dafür enthält es zu viele beachtenswerte Wahrheiten über Gott, Jesus, die Bibel und den christlichen Glauben. Ich versuche dies anhand seiner Textaussagen zu belegen:

Borg beschreibt ab Seite 24 zwei unterschiedliche Bibelverständnisse, ein früheres und ein heutiges, das er vertritt. Das frühere bezeichnet er das "wortwörtliche", wobei es eigentlich noch gar nicht so alt ist, da es sich erst im 19. Jahrhundert richtig ausgebildet und durchgesetzt hat, nämlich parallel zur päpstlichen Unfehlbarkeitserklärung um 1870. Die Bibel wurde dabei nur mehr göttliches Werk angesehen, als eine Art Nachschlagewerk, Lexikon und gar als die "Wörter Gottes". Deshalb muss sie vor allem für wahr gehalten und seit der Moderne nur noch wörtlich-faktisch ausgelegt und verstanden werden. Das hat aber teilweise fatale Folgen für die Lebenspraxis von Menschen, die so glauben müssen.
Borg jedoch versteht die Bibel historisch, metaphorisch und sakramental. Sie sei die menschliche Antwort auf Gott. Mit "metaphorisch" meint er eine Bedeutung, die über das wörtlich-faktische hinausgeht und in diesem Sinne "mehr als wörtlich" ist und deshalb viel Bedeutung für uns heute hat. Auf Seite 60 gibt er ein Beispiel, wie die Schöpfung metaphorisch verstanden werden kann:
"Gott hat alles, was ist, erschaffen. Die Schöpfung ist gut, ja sogar sehr gut. Wir sind nach dem Abbild Gottes geschaffen. Wir leben unser Leben jenseits von Eden: Irgendetwas ist falsch gelaufen. Und wir sehnen uns danach zurückzukehren."
Ein Sakrament ist für ihn ein Mittel der Gnade, ein Medium und Träger des Geistes und die Geistesgegenwart im Sichtbaren und Körperlichen. Für Borg ist die Bibel sehr wichtig, da sie unser Gründungsdokument und Grundlage ist, identitätsstiftendes Dokument, das Sinn gibt und die Weisheitstradition, die unsere Lebensführung bestimmen soll (Seite 55).

Ab Seite 35 beschreibt Borg seine Auffassung von "Glaube“. Er nennt vier Ausprägungen:
· Assensus: Zustimmung
· Fiducia: Vertrauen
· Fidelitas: Treue im Verhältnis zu Gott
· Visio: ganze Sichtweise, umfassender Blick ermöglicht "antwortendes" Ich
Das lateinische "credo" beschreibt er sehr schön und treffend mit "ich gebe mein Herz an Gott, ich liebe Gott, Er ist mir teuer". Damit zeigt er überzeugend auf, dass Glaube im christlichen Sinn immer mehr meint als nur Zustimmung oder „etwas für wahr halten“.

Labels: , , , , , , , , , , ,

Dienstag, Oktober 17, 2006

Aspekte der Grundmuster 8+9

Grundmuster 8: Boss, Führer, Kämpfer, Krieger, Starker
· Programm: Selbstgerechtigkeit und Arroganz (Naranjo: sadistischer Charakter und die Wollust)
· Liebt Selbständigkeit, Führungsqualitäten, Verantwortung, Grösse, Macht und Idee der Gerechtigkeit
· Hang zu Konfrontation, Schonungslosigkeit, Aggression, Dominanz, Bestrafung, Widerstand, Rebellion
· Prangert Ungerechtigkeit, Verlogenheit und Egoismus an
· „Die Welt ist ein ungerechter Ort. Ich verteidige die Unschuldigen. Gut, dass ich stark bin“ Helen Palmer
· Sprachstil: Streitgespräch, holzschnittartige und „schwarz-weiss“-Argumentation, Klarheit, Arroganz, Bevormundung
· Biblische Referenzen: Lamech (Rache), „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, Deborah, Jael, David, Simson (Richter 4-16), „Er stösst die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen“ (Lk 1,15), „Donnersöhne“, die Zebedaiden, Jakobus (Mk 3,17 & Lk 9,52 rachsüchtige Vergeltung), Santiago, Spanien
· Integration: nicht Widerstand leisten (Mt 5,38), Diener werden (Mt 20,25-28), Mitgefühl, Einfühlungsvermögen und Gemeinsamkeiten entwickeln, Kompromisse und Gemeinschaft eingehen

Grundmuster 9: Bewahrer, Friedliebender, Ursprünglicher, Vermittler
· Programm: Friedfertigkeit und träge Unschlüssigkeit (Naranjo: psychospirituelle Trägheit und übertriebene Anpassung)
· Liebt Harmonie, Geselligkeit, Frieden, Versöhnung, Ruhen in sich selbst, nichtdirektive Gesprächsführung (Rogers) und „ich weiss, dass ich von dir nichts weiss“
· Hat Schwierigkeiten, den eigenen Standpunkt zu definieren infolge Symbiose, Fortsetzung Mutterbeziehung, Störung der Ich-Grenzen, Verschmelzung mit dem Partner und eigene Ziele zu erreichen wegen mangelndem Ehrgeiz
· Lebt aus zweiter Hand: vergessen, vermeiden, verpassen, versäumen, verschlafen, verzögern; Vernachlässigung des eigenen, tiefen Selbst, vergräbt Schätze
· Sprachstil: Saga, breit, episch, behutsam, plätschernd, detailverloren, langweilig, romanhaft, weitschweifig, stereotyp, scherzhaft
· Biblische Figur: Jona, der im Schiff in den Tiefschlaf fällt und wartend unter dem Baum sitzt
· Gabe: geistesgegenwärtiges Dasein und Hingabe (Riso)
· Integration: wahrer Friede kommt erst nach Konfrontation (Mt 10,34); Prioritäten setzen und überprüfen; kämpfen lernen, Tat: „Anders werden durch Reifung statt Sein“

Das Schlusswort des Buches von Michael Schulz ist das Motto der Münsterschwarzacher Mönche: „Du hast mehr Möglichkeiten, als du denkst; ganz zu schweigen von den Möglichkeiten, die Gott mit dir hat.“ Dem ist nichts anzufügen!

Labels: , , , , , , , , , , , , ,

Montag, Oktober 16, 2006

Aspekte der Grundmuster 5-7

Grundmuster 5: Beobachter, Denker, Philosoph
· Programm: Wissen und Rückzug (oder schärfer formuliert: Habsucht und Absonderung)
· Welt der Objektivität, der Wissenschaft, des Forschens, der Systeme, der Segmentierung, der Isolierung, der Auseinandersetzung, der intellektuellen Argumentation, der Abhandlung, des Abstands und Gabe des Zuhörens; Motto: „Durch konzentriertes Arbeiten dem Geheimnis des Lebens auf die Spur kommen“
· Weltsicht: „My home is my castle“ oder „Die Welt ist aufdringlich, ich brauche meine vier Wände, um nachzudenken und aufzutauchen“ Helen Palmer
· Grundgefühl: Sparsamkeit, Minimalismus: „Weniger ist mehr“ oder „Wenn ich den kleinen Finger gebe, nimmt man mir die ganze Hand“
· Vorgehen: subjektives Vermeiden, kontemplatives Abstandnehmen, Reduktion
· Integration: sich einlassen, teilen, Teilnahme, Anteil geben: „Geben ist seliger als Nehmen“ (Ap 20,35)
· Beispiele: René Descartes mit „Cogito ergo sum“; Gerhard Testeegen, evangelischer Dichter und Mystiker, „Geist des Kapitalismus“ (Max Weber)

Grundmuster 6: loyaler Skeptiker, produktiver Zweifler, „advocatus diaboli“
· Programm: Sicherheit und ängstlicher Zweifel
· Denkmuster und Weltsicht: Angst, Furcht, Misstrauen: Die Welt ist ein gefährlicher Ort; geht vom schlimmsten Fall auf; Sicherheitsdenken, Pflichtbewusstsein, Schutz, Kontrolle und Aufsicht; Abwehr-haltung, binäres Denken: Einteilung in Freund und Feind, Kampf zwischen Gut und Böse, Böse ausrotten (Beispiele: Hexenverfolgungen, Nazismus, Terrorismusängste nach 11-9-01, Fundamentalismus, „Achse des Bösen“)
· Tiefe Unentschlossenheit
· Sprachstil: warnende Begrenzung
· Identifizierung durch Abgrenzung und Aggression
· Verwechseln Gewissheit und Sicherheit (Götze)
· Kein Zugang zu verdrängten Aengsten: die phobische Reaktion ist Rückzug und Flucht, die kontra-phobische Reaktion ist Angriff und Kampf (aufgesetzte Härte verdrängt die Angst, z. B. Kampfsport)
· Einladung zu Vertrauen, Glaube und Mut: „Fürchte dich nicht!“
· Helen Palmer als Beispiel: sie ist seelenkundig aus Angst
· Watzlawicks: Geschichte mit dem Hammer

Grundmuster 7: Epikureer, Glücksucher, Massloser, Optimist, Träumer, Vielseitiger
· Programm: unbekümmerter Optimismus und nervöse Aktivität
· Welt der positiven Einreden führt zu Idealismus, Verblendung und Verdrängung
· mit grossem Energiepotential aktiv sein bis hin zur Masslosigkeit, Unersättlichkeit und „Völlerei“: Es ist die leidenschaftliche Suche nach Lust (Hedonismus) und Erfüllung durch oberflächliche Vergnügungssucht und bombardiert werden von sinnenhaften und sinnlichen Wahrnehmungen
· Sprachstil: heitere Geschichten erzählen und inszenieren
· Beispiele: Salomo (Beschreibung der eigenen Masslosigkeit im Prediger), Mozart, Peter Pan und das „magische Kind“, das nicht erwachsen werden will
· Integration: konstruktive Schmerzverarbeitung und realistischer Umgang mit Leiden lernen: Schmerz und Tragödie des eigenen Lebens zulassen und wahrnehmen, Theologie des Kreuzes; die eigene Mitte finden, Nüchternheit und Konzentration aufs Wesentliche, bleiben und standhalten, Mässigung und Engagement

Labels: , , , , , , , , , , , , , ,

Samstag, Oktober 14, 2006

Aspekte der Grundmuster 2-4

Grundmuster 2: Geber oder Helfer
· Programm: Hilfsbereitschaft und Manipulation
· Fokus: personale Beziehungsebene
· Anvertraute durch (gute) Ratschläge lenken, Gemeinschaft erhalten und Kommunikation fliessen lassen
· Abhängig vom Gebrauchtwerden; Helfersyndrom und Burned-out-Effekte
· „gnadenloses Unabhängigkeitsstreben“, indem man bei sich nicht hinschauen will
· Vorwurfsvolle Rechtschaffenheit
· Hilfreiche Meditation: „Selig sind, die geistlich arm sind“ (Mt 5,3)

Grundmuster 3: Dynamiker, Erfolgssuchender, Gewinner, Selbstdarsteller oder Verkäufer
· Programm: Leistung und Image
· Propagandistischer Sprachstil, Geltungsdrang
· Selbstbild: „Ich bin erfolgreicher Vertreter meiner Sache“
· Orientierung: Effizienz, Leistung, Status, Ziel(e)
· Gespür für Anerkennung, Bestätigung und Lob durch Leistung, Erfolg und Verkauf
· „Chamäleonverhalten“: äusseren Rollenerwartungen folgen, Selbstdarstellung dem Publikum anpassen
· Furcht vor und Verdrängung von Versagen zeigen eigentlich „Tiefe der Verunsicherung (S. Zuercher)
· „American Way of Life“
· Oberflächlichkeit: Inneres als grosses unbekanntes Wesen oder eingesperrtes Ungeheuer
· „Verewigung des chronischen Irrtums“ (Claudio Naranjo), Selbstbetrug, Täuschung und Trance (Integration: entschleiern heisst umkehren, Wahrheit erkennen, annehmen und zulassen und so „zur Wahrheit fähig werden“ Helen Palmer)
· „Gleichnisse sind ein Weg, um zu Menschen in Trance zu sprechen; Menschen, die sehen und hören können, es aber nicht tun“ C. Thomson: Das Jesus Enneagramm. München 2000)

Grundmuster 4: Aesthet, Dramatiker, Empfindsamer, Individualist, Künstler, Melancholiker oder tragischer Romantiker
· Programm: Aussergewöhnlichkeit und Sentimentalität
· Traumatisch erlebter „Paradiesfall“: Elementar verlassen werden hinterlässt Scham und Schmerz und kann zur „Self-Fulfilling-Prophecy“ werden: jemanden verlassen, sehr anfällig für Trennungsängste sein, masslos gekränkt sein und in eine Scheinwelt flüchten
· Verborgenes Grundgefühl: unrettbar verloren und „Stich durchs Herz“
· „Mir fehlt etwas, die anderen haben es, ich bin verlassen worden“ Helen Palmer
· Sprachstil: Klatschhaftes Lamento jammervoller Geschichten
· Die tief ausgeprägte „Seelenlandschaft“ lässt Tragödie des eigenen Lebens zelebrieren mittels intensiver Empfindsamkeit, grossem Repetoire an Gefühlsregungen, Hang und Drang zum Künstlerischen, höchstes Glück und tiefste Verzweiflung durchleben, „bonjour tristesse“ (z.B. Leidensgeschichte von H. Hesse)
· Tendenz zu Unmoral, Freiheit, Stilisierung, Inszenierung und Rollenspielen
· Integration: Heute in Gottes Gegenwart leben und Menschen an Abgründen gefühlvoll begleiten
· Alttestamentliche Profeten wie Jesaja, Jeremia und Hesekiel hatten starke Symbolhandlungen zur dramatischen Verkündigung gebraucht. Auch die Klagelieder und die Josefsgeschichte atmen dieses Grundmuster
· „Vierer wollen nicht wirklich geheilt werden“ Clarence Thomson
· Emotionale Abgründe des Schmerzes und Leidens intensiv wahrnehmen und durchleben

Labels: , , , , , , , ,

Mittwoch, Oktober 11, 2006

Aspekte des Grundmusters 1

In Teil c) bei Schulz geht es um "Sprachstil und Aspekte geistlicher Begleitung im Rahmen einzelner Grundmuster". Es geht ihm hier um praktische Theologie, um reflektierte Praxis der Seelsorge und geistliche Begleitung, um Rezipierung "pathologischer" Blindheiten einzelner Muster und um eine "therapeutisch-heilsame Grundhaltung". Jesus als Heiland und Therapeut steht da im Vordergrund. „Störung und Charisma, Verblendung und Begabung sind in der Sicht des Enneagramms aufs Engste miteinander verwoben“ (Seite 557). Zudem hält Schulz viel von Claudio Naranjo, dessen Buch "Erkenne dich selbst im Enneagramm, die neun Typen der Persönlichkeit" 1994 in München erschienen ist und bezeichnet es als "elementares Bussbuch". Auch Helen Palmer und Suzanne Zuercher, die seit Jahrzehnten mit dem Enneagramm arbeiten, werden im Rahmen der Grundmuster häufig zitiert. Nun folgt eine stichwortartige Zusammenfassung der einzelnen Grundmuster:

Grundmuster 1: Perfektionist, Reformer
· Programm: Perfektion und Groll
· Tendenz zu moralischer Ueberlegenheit, moralisch gefärbte Rechtschaffenheit (Suzanne Zuercher)
· "Predigender" Tonfall; höfliche Worte mit schneidender Stimme und Lächeln mit steifer Körperhaltung (Helen Palmer)
· aristokratisches Selbstbild und erlesenes, gönnerhaftes und herablassendes Benehmen (Claudio Naranjo)
· Positives Ziel: "Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist" Mt 5,48
· Negativbild: zu urteilendes und beurteilendes Denken und Reden, wie es Jesus in Mt 7,1-6 dargestellt hat
· lebt nach Maxime: "zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen... fürs Vergnügen reicht es dann aber kaum mehr"
· innerer Gutachter, Kritiker oder Richter ist zu stark ausgeprägt (integrativer Umgang mit dem inneren Kritiker lautet etwa so: „du gehörst zu mir, mit Humor schaue ich dich an“)
· Paulus und Luther sind die grössten Theologen mit Einser-Muster: „Lass dir an meiner Gnade genügen“ (2Ko 12,9) war die befreiende Antwort für sie. Reformatorische Erkenntnis ist auch vor EINER-Hintergrund zu sehen
· Hilfreiche Meditation: Gleichnis von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26-29)

Labels: , , , , , , , , , , ,

Transformativer Impuls

Schulz beschreibt ab Seite 427 auf etwas komplizierte Art das Veränderungspotenzial des Enneagramms in Verbindung mit christlicher Spiritualität. Zuerst nimmt er die psychologische Erkenntnis auf, dass es beim Menschen anfänglich um Ich-Entwicklung, -Aufbau und –Stärkung und erst später um das Loslassen des Ego geht. Seine Ausführungen greifen weit zurück bis ins Frühchristentum:
„Und dennoch preisen will dich der Mensch, ein kümmerlicher Abriss deiner Schöpfung. Du selber reizest an, dass dich zu preisen ist; denn geschaffen hast du uns zu dir, und ruhelos ist unser Herz, bis dass es Ruhe hat in dir.“ Augustin (Seite 436).
„Die Achtsamkeit ist die Ruhe des Geistes, das Stillwerden oder das Schweigen, das durch Gottes Barmherzigkeit der Seele geschenkt wird. Sie ist die Reinigung der Gedanken, der Tempel für die Erinnerung an Gott und die Kraftquelle zum Ertragen von Prüfungen.“ Nikephoros (Seite 433).
Dann arbeitet Schulz Wolfhart Pannenbergs aktuelles und wichtiges Werk „Christliche Spiritualität“ ein. Pannenberg definiert Sünde und Veränderung darin so: „Sünde ist der gemeinsame Nenner für all das, was dem Geist der Transformation dieses Lebens in die Herrlichkeit Gottes widersteht. ... Indem er sich identifiziert mit seiner entfremdeten Vergangenheit, setzt der Christ eine verborgene Gegenwart seines wahren Selbst im Kampf des alten Adams voraus, und retrospektiv beruft er sich auf die spärlichen Spuren des wahren Selbst, dessen er sich jetzt erfreut, in seinem damaligen Zustand als Zeugnis für die christliche Identität als Befreiung des innersten Selbst der Person, die er zuvor war. ... Die Kraft des Glaubens hebt uns über unser altes Selbst hinaus (Luther). Die lutherische Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben lehrt (nichts anderes als) die transformative Affirmation des Menschen durch Gottes Liebe.“
Der Buddhist Masao Abe sagt es so: „Der Tod des menschlichen Ichs ist wesentliche Bedingung der Erlösung“. Hier wäre ein guter Anknüpfungspunkt, um den Diskurs zwischen christlicher Spiritualität, (lutherischer) Theologie und interreligiösem Gespräch zu beleben.
Nimm meine Liebe und Scham als Busse an“ sagte Rabbi Sussja.
Schulz folgert aus den Geschichten dieses Rabbis ein dreifaches Wirken des Geistes (Seite 444):
· Einsicht meiner abgründigen Entfremdung, Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit (paulinische und lutherische Lehre)
· Klarheit und Barmherzigkeit (Jesus in der Bergpredigt)
· Gabe der unaufdringlichen geistlichen Begleitung und herzliche Sehnsucht, dass Fromme und Unfromme zu Gott hin erwachen möchten

Labels: , , , , , , , , , ,

Dienstag, Oktober 10, 2006

Innere Achtsamkeit

Die Hinführung zur inneren Achtsamkeit, zum inneren Beobachter und zur Gnade des inneren Abstands (ab Seite 412) scheint Schulz ein zentrales Anliegen zu sein. Er greift nochmals Erich Fromm mit seiner „seinshaften Präsenz“ anstelle der Habsucht auf. Anselm Grün nennt das gleiche Geschehen „Einübung in die Nichtidentifikation“. Viel Raum nimmt dann die Auseinandersetzung mit (dem jüngeren) Christoph Blumhardt ein, da sich Schulz mit ihm seit über dreissig Jahren befasst hat und er ihn für einflussreich auf die Entwicklung der deutschsprachigen Theologie hält. Es geht hier spezifisch um die spirituelle Lebensgestaltung. „Merks“ heissen bei Blumhardt die Sensibilisierungen für den Willen Gottes durch beten, hören und tun, das „innerliche Reden Gottes“ wahrnehmen oder anders gesagt „aufmerksam sein auf die innere Stimme“. Denn der Geist Christi kann Eindrücke geben, auf die man sorgsam achten muss. Durch Folgsamkeit und Gehorsam wird das innerliche Reden Gottes immer vernehmlicher. Wir bekommen durch „nach innen gerichtetes Hören“ ein „Takt-, Fein- oder Zartgefühl“, ein geistliches Unterscheidungsvermögen, das durch Einübung zunimmt.
Im selben Unterkapitel (Seite 419) verweist Schulz auf das Buch von Richard Rohr: Von der Freiheit loszulassen. Es enthält u. a. eine Uebung von Thomas Keating, die eine didaktische und homiletische Einführung in die Kontemplation darstellt. Zusammenfassend definiert er Kontemplation so: „Kontemplation ist ein langer liebevoller Blick auf das, was wirklich ist. Dort wo wir nicht mehr urteilen und nicht mehr angreifen, sondern dort, wo wir einfach empfangen“.
Gesunder innerer Abstand stellt sich da ein, nach Francis Acharya, wo „Identifikationen nicht mehr die eine wesentliche und entscheidende Identifikation verdecken: die mit unserer Gottes-Kindschaft; ja, mit Gott und seiner Freiheit. Sie muss alles überstrahlen, ihr müssen sich alle anderen Identifikationen unterordnen“.
Jörg Zink hat es 1985 in seinem viel verbreiteten Buch „Wie wir beten können“ so formuliert: „Herr, mein Wort ist nicht genug. Ich will schweigen, damit ich lerne, dein und mein Wort zu unterscheiden. Denn ich möchte dein und nicht mein eigener Mund sein. Gib du mir dein Wort“.

Labels: , , , , , , , , , ,

Sonntag, Oktober 08, 2006

Chancen und Gefahren des Enneagramms

Auf den Seiten 382-390 des Buches von Michael Schulz folgt die ausführlichste und eine sehr hilfreiche Zusammenstellung positiver und negativer Stichworte, wobei die positiven Punkte eindeutig überwiegen. Die Punkte gehen auf Dirk Meine zurück:

· Selbstkritisch
· Wegweiser unter vielen, keine Heilslehre
· Erfahrungsorientiert
· Dialogfähig: hat psychologische, christliche oder esoterische Intention
· Spirituell ausgerichtet: führt zu mündiger Christusnachfolge und/oder spiritueller Psychologie
· Theologisch fundiert: ausbalanciert zwischen Gott und Mensch; Christus soll Gestalt in uns gewinnen
· Einladend, entlastend & verheissungsvoll: Sehnsucht als gute Gabe Gottes in den Blick bekommen, die hinter unserer Sünde liegende Sehnsucht als gute Gabe Gottes sehen
· Analytisch und synthetisch: es besteht eine Spannung zwischen typologisch und individuell
· Dreifache Dynamik: Partnerenergie, Flügel & typeninterne Entwicklung (in Richtung Erlösung/Reifung) „Erkenntnis der eigenen Charakterstruktur soll dazu helfen, diese Fixierung zu lockern... Das Enneagramm will ein Spiegel sein, um aufzuwachen und nicht noch tiefer einzuschlafen, sondern die gleichwertige Fülle anderen Lebens zu erkennen und nicht in der Verengung und Blindheit des eigenen Musters zu verbleiben... Weg zu reiferem und mündigerem Christsein, als Unterwegs-Sein zum tieferen Selbst“
· Keine Heilslehre: Enneagramm hat „Landkartenfunktion“, es ist begrenztes Hilfsmittel und betont Ausschnitthaftigkeit
· Fixiertheit auf einen Typ: regressiv bedeutet: Rückzug; agressiv: Selbstgerechtigkeit; zwanghaft: „Self-fulfilling-prophecy“
· Etikettierung anderer: es gilt „den Geheimnischarakter eines jeden Menschen zu wahren“
· Machbarkeit der Erlösung: nein, da Hilfe von aussen wesentlich ist
· Moralisierung der Erlösung: Sünde hat Beziehungscharakter und der ist zu wahren
· Theologische Grundlegungen und Terminologie: Vermischung von Theologie und Psychologie. „Christliche Enneagrammarbeit zielt auf Umkehr und Erneuerung, die nicht ohne persönliche Beichte und Absolution erreicht werden kann“ (Dietrich Koller)
· Analytische Schwächen: ja, aber hier liegt der Fokus weniger
· Eigengeprägte Erweiterungen
· Weitestgehende Begründungsmöglichkeit: hilfreich zur Typenfindung sind Typisierungsinterviews „typing interviews“ oder Supervision nach Helen Palmer (Ausschlussverfahren, diagnostisches Hören und Sehen, nichtbeurteilende Selbstbeobachtung und waches Hinschauen bei sich)
· Buchform kontra mündliche Ueberlieferung „oral tradition“: Es besteht eine grosse Nachfrage nach geistig-spiritueller Begleitung und Hilfe, der man kaum gerecht werden kann ohne Bücher: so wurden über 300'000 Exemplare des Buches Rohr/Ebert verkauft. EnneaForum, oekumenischer Arbeitskreis zum Enneagramm bildet nun eine zweite Generation aus. Zudem gibt es EnneagrammlehrerInnen in der mündlichen Tradition nach Helen Palmer
· Gebrochenheit durch eigenwilligen Gebrauch: oberflächliche Neugier und Lust an Erkenntnis führen nur zu distanzierter psychologischer Selbsthilfe und kognitiver Information über den Menschen
· Gesellschaftspolitischer Kontext: Einzelner Mensch von innen nach aussen verändern beinhaltet Gefahr einseitiger Verinnerlichung und Unterschätzung der gesellschaftlich-politischen Strukturen. Veränderung fängt beim Einzelnen an und geht hin zur Gesellschaft im Sinne von Haben zum Sein (nach Erich Fromm). Dimensionen des christlichen Glaubens sind: personal, mitmenschlich-sozial, politisch und mystisch. Legitime Mystik führt bis in die Politik, aber Vorrang hat das „extra nos“ (= ausserhalb von uns), dass Gott in Jesus Christus die Gnade ist!
· Nichtchristliche Ursprünge: ist ein Problem für Fundamentalisten. Wirkliche Vernetzung von Theologie und enneagrammatischer Arbeit ist weitgehend noch nicht erarbeitet!
· Empirisch nicht nachweisbar: Das Enneagramm ist mehr als nur intuitiv erfahrbar. Es gibt aber wie in Psychologie, Psychoanalyse und Psychotherapie verschiedene Ebenen: Prozess, Theorie und (weltanschauliche) Konsequenzen

Labels: , , , , , , , , ,

Samstag, Oktober 07, 2006

Geistlicher Gehalt des Enneagramms

In Teil b) kommt Schulz schon mehr zum Kern der Sache, er stellt nämlich die Frage: Was ist der Gehalt des Enneagramms und wie ist es in die Theologie einzuordnen. Hier bringt Schulz den deutschen katholischen Theologen Romano Guardini als unbewussten Vorläufer des Enneagramms ins Spiel.
Dann kommen eingehende Ausführungen zur "Schuld-Sünde-Problematik", die der Bibel entlang sehr gut begründet werden. Er erklärt kurz die Hauptbegriffe des Alten Testaments "Päscha" – Auflehnung, "Awon" – Schuld und "Chata" – Zielverfehlung. Er kritisiert die allgemeinen - da meist wirkungslosen – Schuldbekenntnisse, wie sie in den evangelischen Kirchen üblich sind, und bringt hier den enneagrammatischen und frühchristlichen Begriff "Wurzelsünde" ein, der wesentlich tiefer reicht und jeden Menschen zutiefst betrifft. Diese Einsicht führt zu einer neuen, tiefen Bedürftigkeit nach Gnade und Rettung durch Jesus Christus. „Die Liebe Gottes soll nicht an der Oberfläche bleiben durch nur rationales Bejahen und Annehmen, sondern will ganz tief in uns einsickern und auch die tiefsten, unberührten und versteckten Schichten erreichen“ (Seite 225). Gerade deshalb hat für Schulz auch die Tiefenpsychologie Bedeutung und Berechtigung in der Theologie.

In der Arbeit mit dem Enneagramm geht es nicht um eine Umgehung der Gnade, sondern um die Vermeidung einer "billigen Gnade" (Seite 267). Wichtig "ist die Fähigkeit, wo immer man ist, voll präsent zu sein." aus Erich Fromm: Haben oder Sein (Seite 273). „Der nüchterne Alltag ist der Ort der Einübung in die Gegenwart Gottes.“ Bruder Lorenz (Seite 282). "Jeder ist also zum Wachstum in Heiligkeit berufen... Alle reifen Menschen sind zur Kontemplation berufen." Robert Fricy und Robert J. Wicks (Seite 290).

"Selbst wenn ich noch so entschlossen für den Frieden bin, muss ich mich fragen: Wieviel Angst habe ich und wieviel Angst mache ich? So lange ich Angst in mir habe, werde ich das zweite nicht ausschliessen können. Wer angstbesetzt ist, wird die Wirklichkeit, vor allen die politische, verzerrt sehen, er wird keine Phantasien aufbringen und nur an einseitigen Lösungen festhalten. Wer einigermassen angstfrei ist, wir neue Möglichkeiten schaffen, er wird Vertrauen beim aussen- und innenpolitischen Gegner gewinnen." Guido Kreppold (Seite 313).

Die Methode der Darstellung des Enneagramms ist heuristisch, das heisst annähernd, vergleichend und macht sich verschiedene Methoden dienstbar (Seite 326). Die wesentliche Intention des Enneagramms ist geistlicher Natur (Seite 328). Das Enneagramm lässt sich auch gut ergänzen und mit dem verbinden, was Eugene Gendlin, Schüler und Nachfolger von Carl R. Rogers an der Universität von Chicago, mit der Methode des "Focusing" entwickelt bzw. neu entdeckt hat (Seite 329).

Aus dem Buch "Geistliche Begleitung bei den Wüstenvätern" von Anselm Grün zitiert Schulz auf Seite 346 und 347 längere Passagen, da unter den Wüstenvätern wichtige Vorläufer des heutigen Enneagramms zu finden sind: "Die eigentliche Heilung ist die Kontemplation, die Aufhebung der Identifizierung mit unseren Wunden, der Weg in den Seelengrund, in dem Gott in uns wohnt, der Weg in den Raum, wo Gott uns wahrhaft von allem befreit, was uns gefangenhalten möchte. Erst in der Kontemplation erfahren wir wahr Freiheit und wirkliche Heilung... Verwundet wird der Mensch nach der Erfahrung der Mönche vor allem durch die Leidenschaften, die ihn bedrängen und immer wieder daran hindern, das eigene Selbst zu finden und in Gott Halt und Ruhe zu erfahren... Hier (bei dem wichtigsten Gedanken und Leidenschaft) geht es darum, die eigene Wurzelsünde zu entdecken und dann systematisch gegen sie vorzugehen. Es hat keinen Zweck, gegen alle Leidenschaften auf einmal zu kämpfen. Das endet immer in der Niederlage und überfordert uns. Es ist gut, uns selbst genau zu beobachten und zu erkennen, was das Haupt unserer Leidenschaften ist... Ich muss beobachten, wohin meine Energie fliesst, was mich bindet und blockiert. Dort wo meine grösste Gefährdung ist, ist auch meine grösste Chance. Durch die Leidenschaft hindurch, die mich am meisten bedrängt, kann ich zu meiner Begabung vorstossen. Dann wird die Leidenschaft verwandelt, und in mir kann der Geist Gottes die Frucht bringen, die er mir zugedacht hat."

Ebenso leiht Schulz auf Seite 354 Teilhard de Chardin sein Ohr: Der göttliche Bereich. Olten 1962: "Ich empfange mich weit mehr, als ich mich selber schaffe... Die Tiefe, die Quelle und die Entstehung des Lebens sind uns letzten Endes vollständig unfassbar... Dir selbst begegne ich, Dir, der Du mich an Deinem Sein teilhaben lässt und mich knetest."
Schulz fasst seine Erkenntnis auf Seite 357 so zusammen: "Christsein, das wachstumsmässig geschieht und zu einem mündigen und reifen Wachsen im christlichen Glauben führt, bedarf in Zukunft mehr und mehr für möglichst viele Christen jener – wenn auch nur kleinen – kontemplativen Momente der Stille, des Innehaltens, des Atemholens und des Ehrlichwerdens." Er beschreibt den (christlichen) Fundamentalismus als schlechte Antwort auf die Angst und Aengste von heute.
„Ich bin eine EINS“ ist eine falsche oder zumindest unzureichende Redeweise, besser ist da die Aussage: „ich gehöre zum Grundmuster der EINS“ (Seite 366)
Enneagrammatische Arbeit wird auf Seite 371 „als kleiner möglicher Beitrag zur Entschleierung von Wirklichkeit wie auch von Sünde und geistiger Verengung. Wir dürfen darum bitten und zugleich einübend daran arbeiten, dass die Gnade der Lockerung von unseren nur eigenen Themen, Behauptungen, Erwartungen, Schuldzuweisungen, unseren nur eigenen Wegen des Fühlens, Denkens und Handelns durch das zunehmende Wach- und Lebendigwerden der inneren Achtsamkeit geschenkt werde. Wir sind zu unserer „Mitarbeit an uns selbst“ gerufen, aber die absolute Priorität liegt in der erbetenen Gnade Gottes. Wer den enneagrammatischen Weg in der Tiefe existentiell versteht – wird erkennen, dass es ein zutiefst christlicher Weg prozessualer lebenslanger Busse ist.“
Immer wieder taucht auch der Name der Enneagrammspezialistin Helen Palmer auf, so auch auf Seite 373, wo es um das Entdecken des Grundmusters geht. Ihre Fragen dazu lauten: „Wie verhalte ich mich emotional, mental, habituell unter Stress?
Auf Seite 381 zitiert er Dag Hammarskjöld: „Lass nie den Erfolg seine Leere verbergen, die Leistung ihre Wertlosigkeit; das Arbeitsleben seine Oede. So behalte den Sporn, um weiterzukommen, den Schmerz in der Seele, der uns über uns selbst hinaustreibt.“

Labels: , , , , , , , , , , , ,

Freitag, Oktober 06, 2006

Michael Th. Schulz: Enneagramm, Spiritualität und Theologie der Zukunft

In den letzten Monaten habe ich das 592 Seiten dicke und sehr interessante Buch von Michael Schulz über Enneagramm, Spiritualität und Theologie der Zukunft gelesen. Der Untertitel lautet: Anläufe und Verbindungen – Materialien und Vernetzungen. Die Geleitworte stammen von Andreas Ebert und Klaus Raschzok. Es ist im Neukirchener-Verlag, Neukirchen-Vluyn im Jahr 2006 erschienen unter der ISB-Nummer: 3-7887-2128-6.
Dieses Werk umfasst drei Teile:
a) Theologische Suchbewegungen im Umgang mit Gottesbekenntnis und Wirklichkeit (ab Seite 9)
b) Theologische "Anläufe" zum Enneagramm, Ansätze und Korrekturen, Materialien und Vernetzungen (ab Seite 153)
c) Praktisch-Theologische Implikationen der enneagrammatischen Arbeit für geistliche Begleitung und Seelsorge (Seite 445-568)

In Teil a) geht es um Analyse der (kirchlichen) Gegenwart in Deutschland. Der Autor ist Theologe und war Pfarrer an der evangelisch-lutherischen Marktkirche in Wiesbaden. Einerseits treffend, manchmal auch etwas ausufernd, langfädig und kompliziert formuliert, beschreibt er die Schwäche der evangelischen Christen in Deutschland mit der fehlenden spirituellen Tiefe der Pfarrpersonen und der Laien richtig. Deshalb fordert er eine Erneuerung durch geistliche Tiefe. Er plädiert für "trinitarisches" Erkennen (nach einem seiner Lehrer Wolfgang Philipp). Dieses mehrdimensionale Erkennen nähert sich dem Gegenstand, respektiert sein Geheimnis, statt dass es über ihn verfügt. Das gilt speziell für Gott, den Inhalt des Glaubens (Seite 100), aber auch für die Beurteilung der Kirchen. Er behauptet, dass dieser Ansatz bereits im Neuen Testament angelegt sei. Schulz ist sehr belesen, er bezieht sich in seinen Ausführungen oft auf seine Lehrer und Vorbilder wie Rudolf Bohren, Manfred Seitz und Jörg Zink und zitiert sie ausgiebig. So soll beispielsweise "Christus nicht beschränkt werden, sondern er muss auch kosmisch gesehen werden".

Labels: , , , , , , , ,

Donnerstag, Oktober 05, 2006

Der Westen, Papst Benedikt und der Islam

Seit dem 11. September 2001, den Karikaturen aus Dänemark und der Papstrede sind nun auch wir hier im Westen hellhöriger auf den radikalen Islam und seine Reaktionen geworden. Es hat etwas lange gedauert, bis wir entdeckt haben, welche Potenz im Islam steckt.
Papst Benedikt hat an der Universität Regensburg eine Vorlesung gehalten, die folgenden Titel trug: „Nicht vernunftgemäss handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider“. Das tönt eigentlich ganz gut, und Benedikts Rede, die inzwischen schriftlich vorliegt, verfolgt diesen Gedanken schön und folgerichtig. Es zeigt die Liebe und Zugewandtheit des Papstes zum christlichen Glauben und zur griechischen Philosophie auf. Das ist keine neue Erkenntnis und Ausrichtung, denn die Geschichte der katholischen Kirche ist geprägt von der frühchristlichen Synthese der biblischen Offenbarungen und der neo-platonischen Weisheit. Ein katholischer Theologe hat es plakativ so ausgedrückt: Alle Philosophien Europas sind Anmerkungen zu Platon.
Unter diesen Vorzeichen ist die Rede vom „vernünftigen“ Gott sehr gut verständlich, aber nicht die einzige christliche Antwort. Die starke griechische Prägung war und ist zugleich Folge der christlichen Entfernung von der jüdischen Herkunft, die schon bald nach dem Tod von Jesus eingesetzt hatte. Gott wird aber im jüdisch-christlichen Verständnis nicht primär durch Vernunft erkannt, sondern die einzige Chance ist die Offenbarung Gottes, die mit Abraham begonnen hatte und in Jesus Christus ihren Höhepunkt erreicht hat. Gottes Offenbarungen haben ein Hauptziel, die Menschen aufzusuchen und sie zu Gott zurückzurufen. Gott macht immer den ersten Schritt auf uns Menschen zu, weil wir trotz Vernunft nicht imstande sind, ihn richtig zu erkennen und zu würdigen.
Ob es da nicht angebracht wäre, wenn Christen auf diese Sichtweise aufmerksam machen würden?
Auch die Reaktion der Moslems ist vor allem in einem geschichtlichen Zusammenhang zu sehen: Der Islam war wahrscheinlich nie nur eine einzige Grösse, sondern immer geprägt von verschiedenen Strömungen und Richtungen. Ungefähr 1970 haben aber „fundamentalistische“ Gruppierungen, die vor allem in Arabien und Nordafrika beheimatet sind, den „reformistischen“ Moslems die Vorherrschaft abgenommen. Fundamentalistische Moslems, wie die Wahabiten, Salafiten und die Moslembruderschaft, wollen vor allem zurück zum ursprünglichen Islam, wollen leben wie ihre Vorfahren, die in Einfachheit geglaubt haben. Die Zerstörung der dekadenten westlichen Zivilisation und Kultur dient diesem Ziel und ist daher legitim. Zudem war im islamischen Selbstverständnis Glaube nie nur eine private Angelegenheit, sondern immer eine öffentliche, politische Sache. Es geht um Unterwerfung, territoriale Herrschaft und schlussendlich um Weltherrschaft. Das islamische Reich wurde von Anfang an durch Feuer und Schwert, den Heiligen Krieg „Jihad“ ausgebreitet. Es ist ein Reich von dieser Welt (nach dem Islamkenner Dr. Heinz Gstrein). Deshalb ist auch das Recht, die „Scharia“ viel wichtiger als die islamische Theologie, der Rechtskundige, der „Mufti“, bedeutender als der Vorbeter, der „Imam“.
Aus diesen Gründen scheint es mir wichtig, islamischen Reaktionen auf die Papstrede nicht nachzugeben. Freiheit des Glaubens und des Denkens sind ein zu wertvolles Gut im Westen, als das sie vorschnell aufgegeben werden sollten! Gleichzeitig müssen Bemühungen verstärkt werden, den Islam in seinen verschiedenen Ausprägungen besser kennen und einschätzen zu lernen.

Labels: , , , , , , , , , , , ,