Sonntag, Februar 28, 2010

Enneagramm und Wissenschaft


Am 19. Februar 2010 hatte ich die Gelegenheit an der Jahreshauptversammlung des öAE (=ökumenischer Arbeitskreis Enneagramm) in Rothenburg o.d.T. (liegt in Franken, Deutschland) teilzunehmen. Am ersten Abend sprach Jürgen Gündel, Psychologe und Psychotherapeut aus Mannheim, über Enneagramm und Wissenschaft.
Er bezeichnete das Verhältnis von Enneagramm zu Wissenschaft als ambivalent. Da das Enneagramm für die überzeugten Anwender bedeutsam und wirkungsvoll zugleich ist, braucht es eigentlich keine äusseren, objektiven Beweise. Für eine allgemeine, gesellschaftliche Anerkennung sind jedoch wissenschaftliche Nachweise wichtig, die aber das Risiko bergen, dass der spezielle „Spirit“ verloren gehe. Gündel definiert Wissenschaft folgendermassen: Es ist ein Set von Ritualien, die von Gütekriterien begeleitet das Ziel verfolgen, Wahrheit und Wirklichkeit herauszufinden.
Dabei unterscheidet er zwei Wege: der deduktive und der induktive.

Der deduktive Weg beinhaltet einen Weg der Operationalisierung: Vom Konstrukt zur Hypothese, dann zu Variablen, Daten und statistischer Bearbeitung. Die Resultate sollen das Konstrukt bestätigen oder widerlegen. Drei Gütekriterien sind dabei bedeutsam:
· Objektivität (Unabhängigkeit von den Erwartungen des Untersuchers),
· Reliablität (Verlässlichkeit) und
· Validität (Messgegenstand)
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Diese Vorgehensweise bringt messbare Resultate, hat also nachvollziehbare Vorteile, aber auch gewichtige Nachteile, weil es ein vorgefasstes Set ist. Es blendet Reichhaltigkeit und Wesentlichkeit der Wirklichkeit aus. Diese Fokussierung orientiert sich auch stark am Auftraggeber, dem es meistens um Gewinnorientierung, Mehrwertabschöpfung und Verwertbarkeit geht. Die Fragestellung lautet: Was bringt uns das? Und nicht: Was ist wirklich? Diese Sichtweise aber verzerrt Wissenschaft, kontrolliert Symtome, stabilisiert Machtstrukturen, unterdrückt Befreiung und enteignet Selbstbewertung tendenziell. In einem solchen Kontext wird das Enneagramm zum reinen „Psychotool“ und nicht zum Selbstfindungsinstrument, das auch einen spirituellen Weg einschliesst.

Der induktive Weg ist eher teilnehmende und berichtende Beobachtung, die sich dem erforschenden Gegenstand annähert und teilweise von ihm beeinflusst wird. Aufs Enneagramm bezogen sind es da die offenen Interviews, die „Panels“.

Generell: Die Induktion geht von der Wirklichkeit zur Theorie, die Deduktion von der Theorie zur Wirklichkeit. Nicht alle zu erforschenden Gebiete und Fragestellungen eignen sich gleichermassen gut für beide Methoden.

Es gibt zurzeit weltweit ungefähr 50 wissenschaftliche Untersuchungen zum Enneagramm, davon sind jedoch wenige aussagekräftig, weil die Gütekriterien nicht immer den heutigen wissenschaftlichen Standards genügen. Folgende Aussagen sind bereits wissenschaftlich erhärtet:
- Zwanghafte Personen gehören gehäuft zu Enneagramtyp 1
- „Messis“ und Opiatabhängige sind überdurchschnittlich bei der 9 zu finden
- Kopftypen haben höhere, Bauchtypen mittlere und Herztypen tiefere Adrenalinwerte
- 3 und 7 sind kaum je beschrieben worden, weil sie vermutlich zu sehr der heutigen westlichen Gesellschaft entsprechen

Gündel plädiert für mehr Wirksamkeitsstudien und auch die Vertiefung des Enneagrammmodells, besonders Pfeilrichtungen und Zentren wären genauer zu erforschen.
Als Beispiel wie Wissenschaft und Emotionalität zusammengebracht werden können, verweist er auf „heartmath“. Diese Organisation erforscht Themen wie Stressabbau, Ausgeglichenheit, Kommunikation, Entscheidungsfähigkeit, Teamfähigkeit und Selbstbewusstsein.


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Freitag, Februar 12, 2010

Gedanken zum Theodizee-Problem


Zwar lässt sich das Problem des Bösen (oder: Warum lässt Gott das Leid zu?) nicht lösen, trotzdem erlaube ich mir, einige gesammelten Gedanken dazu weiterzugeben. Ich habe die Argumente aus verschiedenen Quellen, auch Seiten wie www.wikipedia.org sind recht ergiebig für Interessierte.

Das Wort „Theodizee“ wurde 1710 von Gottfried Wilhelm von Leibniz eingeführt und bedeutet eigentlich die Rechtfertigung des Glaubens an Gottes allmächtige und allweise Güte angesichts der sinnlos scheinenden Übel in der von ihm geschaffenen Welt. Es handelt sich um ein schwieriges Thema der Philosophie- und Theologiegeschichte, das schon viele grosse Denker herausgefordert hat.

Als am 11. November 1755 Lissabon von einem Erdbeben zu zwei Dritteln dem Erdboden gleichgemacht wurde, war dies für das ganze aufgeklärte Europa «ein ähnlicher Schock wie der 11. September für unsere Zeit», betonte kürzlich der Zürcher Weihbischof und Philosoph Peter Henrici anlässlich einer Tagung zu diesem Thema: «Die Zerstörung einer Stadt, die an der Spitze des kulturellen und wirtschaftlichen Fortschritts stand, versetzte dem Optimismus des Jahrhunderts einen harten Schlag.» Für Voltaire war nach diesem Ereignis der Glaube an einen guten und weisen Weltenlenker fortan unmöglich. Kant indessen sah die Sache anders. Er war der Ansicht, dass nicht Gott für die Katastrophe von Lissabon verantwortlich gemacht werden dürfe. Vielmehr sei es der Unvernunft der Menschen zuzuschreiben, die eine Grossstadt in einer Zone angelegt hatten, von der man wusste, dass sie erdbebengefährdet ist.
Peter Henrici warnte davor, für das Theodizee-Problem allzu einfache Antworten zu suchen. «Das Erdbeben von Lissabon war ein Naturereignis, das, wenn überhaupt, nur von der Hand Gottes gelenkt werden konnte. Der 11. September dagegen war einzig und allein das Werk von Menschen.» Nachfolgend einige möglichen Teilantworten für diese schwierige, kaum lösbare Problematik:

· Freiheit des Menschen, sein freier Wille schafft eben auch Böses (z.B. Deismus)

· Schöpfung ist unfertig. In der Bibel gibt es keine endgültige Antwort auf das Böse, sondern Gott rettet aus dem Bösen. Gott hat mit der Schöpfung dem lebensfeindlichen Chaos eine Ordnung abgerungen. Klaus Berger : „Gott ist nicht grausam, davon bin ich im Laufe meines Lebens als Neutestamentler zusehends überzeugt. Sondern, wenn ein Unglück passiert, ist es allemal die Eigengesetzlichkeit dieser Schöpfung. Wenn jemand vor das Auto läuft und überfahren wird, ist es kein grausamer Gott, sondern es sind die Naturgesetze. Wer so über die rote Ampel hinwegsieht, dem ist nicht zu helfen. Wunder sind für diese Fälle nicht vorgesehen. Es gibt kein Menschenrecht auf Wunder. Der Tod gehört zu dieser Schöpfung hinzu, weil sie schwach ist. Gott will die Überwindung des Todes in all seinen Formen."

· Das Übel als Wille Gottes. Eine mögliche Sicht auf die Bibel verneint, dass Gott nur für das verantwortlich sein kann, was Menschen als „gut“ bewerten, sondern für alles verantwortlich ist, wenn man seine Allmacht ernst nehmen will. Einige Bibelstellen nach der konkordanten Uebersetzung dazu sind: "ALLES, d.h. ausnahmslos jedes Wesen, diene Gott" (Psalm 119:91). Gott mache alles zu seinem Zweck, auch den Gottlosen (Sprüche 16:4). "Ich [Gott] bilde das Licht und ERSCHAFFE das Finstere, bewirke das Gute und ERSCHAFFE das Unheil. Ich, Ieue Aluim, mache all dieses" (Jes. 45:7). "Oder geschieht ein Unglück in der Stadt, und der HERR hätte es nicht bewirkt?" (Amos 3:6). "Herodes wie auch Pontius Pilatus mit den Nationen und den Völkern Israels [waren versammelt], um alles auszuführen, was Deine Hand und Dein Ratschluss vorherbestimmt hatten, dass es geschehe" (Apg. 4:26-28). "Was wollen wir nun vorbringen? Doch nicht, es gebe Ungerechtigkeit bei Gott! Möge das nicht gefolgert werden! Denn zu Mose sagt Er: Erbarmen werde ich Mich, wessen ich mich erbarmen möchte; und Mitleid werde ich haben, mit wem ich Mitleid haben möchte. Demnach liegt es nicht an dem Wollenden noch an dem Rennenden, sondern an dem sich erbarmenden Gott. Denn die Schrift sagt zu Pharao: Ebendeshalb habe ich dich erweckt, damit Ich an dir Meine Kraft zur Schau stelle und damit Mein Name auf der gesamten Erde kundgemacht werde. Demnach erbarmt Er sich nun, wessen Er will, aber Er verhärtet auch wen Er will." (Römer 9:14-18, siehe dazu 2. Mose 4:21, 9:12, 14:4, 14:7). "Nun wirst du erwidern: Was tadelt Er dann noch? Wer hat je denn je Seiner Absicht widerstanden? - O Mensch, in der Tat, wer bist denn du, Gott gegenüber eine solche Antwort zu geben? Das Gebilde wird doch nicht dem Bildner erwidern: Warum hast du mich so gemacht? - Hat der Töpfer nicht Vollmacht über den Ton, aus derselben Knetmasse das eine Gefäß zur Ehre und das andere zur Unehre zu machen?" (Römer 9: 19-21). "Gott gibt ihnen einen Geist der Betäubung, Augen die nicht erblicken ..." (Rö. 11:8). "es [unser Evangelium] ist denen verhüllt, die umkommen, in welchen der Gott dieses Äons die Gedanken der Ungläubigen blendet, damit ihnen der Lichtglanz des Evangeliums der Herrlichkeit des Christus nicht erstrahle." (2. Kor. 4:4). "Er [ein Bote Gottes] bemächtigte sich des Drachen, der uralten Schlange (die der Widerwirker und der Satan ist) und band ihn für 1000 Jahre." (Offb. 20:1ff).

· Gott hat sich von den Menschen zurückgezogen, die ihn ablehnen (z. B. Pfarrer Wilhelm Busch) Dietrich Bonhoeffer sagte es so: "Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott lässt sich aus der Welt hinausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns."

· Es gibt keine Lösung: Wir sind nicht berechtigt, Gott anzuklagen. Wir können nur dialektisch vom Paradoxon reden (Karl Barth: Das Böse ist die „unmögliche Möglichkeit“). Ähnlich äußern sich Theologen von heute, beispielsweise Alfred Buß: „Ehrliche Theologie gesteht ein, dass es auf die Frage nach dem Sinn des Leidens keine Antwort gibt. Wer sie trotzdem versucht, setzt nur Irrlichter auf.“ (Karsten Huhn: Wie kann Gott das zulassen?) Fast 2000 Jahre zuvor wird in den Sprüchen der Väter, einem Teil der Mischna und Hauptwerk der jüdischen Ethik formuliert: Rabbi Janai sagt: Es ist uns nicht gegeben zu wissen, warum Frevler in Wohlergehen und Gerechte in Leiden leben. (Kap. IV, Vers 19)

· Die Unabhängigkeit der Engel/Dämonen


Einige weitere Stimmen, die wirklich etwas zu sagen haben:

Schalom Ben-Chorin: Als Gott schwieg. Eine Theologie nach Auschwitz. Das Problem der Theodizee. Die Rechtfertigung Gottes angesichts der Uebel der Welt
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Nun meine ich, dass wir keine zureichende Antwort auf diese Frage haben. Höchstens gewisse Hinweise. Der erste Hinweis ist der, dass die Sünde der Preis der Freiheit ist. Da der Mensch frei ist, kann er sich zum Guten und zum Bösen entscheiden. Auschwitz ist die extreme Entscheidung des Menschen gegen den Menschen, aus der Freiheit des Menschen heraus, der das Böse tun kann, obwohl er das Gute erkennt.
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Von der Bibel her gibt es drei Antworten auf eine Katastrophe von solchem Ausmass. Alle drei können uns aber nicht genügen. Die Bibel versteht das Leiden als Strafe für das Brechen des Bundes, ausserdem als Prüfung – denken Sie an Abraham und Hiob. Und schliesslich gibt es das Leiden des Unschuldigen als Regulativ der Schöpfung. Jesaja 52 und 53, die Lieder vom Knechte Gottes, der leidet um der Sünden anderer willen – ein Gedanke, der dann im Christentum auf die Person Jesu projiziert wurde. Ich muss aber sagen, dass keine der Antworten ausreicht und wir wir letzten Endes wie Hiob sagen müssen: „Ich lege meine Hand auf meinen Mund“, ich kann nicht antworten.

Hanspeter Schmutz: Zwischen 9/11 und Kashmir. Wo war Gott? Fünf Stimmen aus der Bibel.
aus „Bausteine 8/2005“ (hier leicht gekürzt wiedergegeben)
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9/11 und besonders Katrina haben in unserer globalisierten Welt zu einer kollektiven Unsicherheit geführt, die in etwa dem entsprechen dürfte, was mit dem Erdbeben von Lissabon vor 250 Jahren geschah: ein Weltbild wurde erschüttert...
Auch das Vertrauen in einen gnädigen und gerechten Gott ist erschüttert. In den Medien taucht die alte Frage wieder auf: Wo war Gott?
Darauf gibt es keine einfache Antwort. Bevor in der Katastrophenbewältigung Gott ins Spiel kommt, muss zuerst der Anteil der Menschen geklärt werden...
Katastrophen sind oft ein Feedback der Natur auf ein falsches menschliches Verhalten. Schwieriger ist es beim Tsunami einen menschlichen Anteil zu erkennen. Vielleicht hätte ein Warnsystem, das technisch schon länger möglich ist, die Folgen der Katastrophe gemildert. Trotzdem bleibt die Frage nach dem gerechten Gott. Sind Katastrophen eine Geissel Gottes oder Ausdruck der Abwesenheit Gottes?

Die erste Stimme ist Noah. Er predigt das Gericht Gottes mitten in einer Gesellschaft, die sich von Gott entfernt hatte. Trotz deutlicher Warnung kehrt nur eine kleine Schar zu Gott um und wird gerettet. Alle übrigen kommen um. Die Sintflut ist Folge eines göttlichen Gerichts.

Die zweite Stimme ist diejenige von Jona. Der rührige Prophet reist nach anfänglichem Zögern in die heidnische Stadt Ninive, prangert deren Sünden an und ruft zur Umkehr. Tatsächlich kehrt die Bevölkerung um und wendet sich dem Gott Jonas zu. Ninive steht für die Katastrophe als Aufruf zur Umkehr.

Eine dritte Stimme finden wir bei Hiob. Er ist ein gerechter Mann, der tut, was Gott gefällt. Gott lässt sich auf den teuflischen Vorschlag ein, Hiob zu versuchen. Hiob erlebt eine Katastrophe um die andere, verliert alle seine Sicherheiten, bis sein Glaube zu wanken beginnt. Zum Schluss aber geht er gestärkt aus dieser Anfechtung hervor. Hiob erlebte die Katastrophe als Glaubenstest.

Eine vierte Stimme ist Jesus Christus am Kreuz. Der Sohn Gottes - und damit Gott selbst – hängt am Kreuz, unschuldig zum Tod verurteilt. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Jesus erfährt als Gottes Sohn Gottverlassenheit. Seit Karfreitag kann jeder ungerecht Leidende wissen, dass Jesus – und damit Gott – mit ihm leidet.

Und schliesslich gibt es noch die Stimme des Jüngsten Gerichtes: Hier treten alle Menschen vor den Thron Gottes. Ihre Taten werden vom Weltenrichter gewogen und – wen mag es erstaunen – als zu leicht befunden. Wer in seinem Leben trotz Verfehlungen den stellvertretenden Tod von Jesus für sich in Anspruch genommen hat, wird – dank Jesus – frei gesprochen. Wer sich aber als zu gut empfand, um auf das Angebot Jesu einzutreten, dem wird der göttliche Fürsprecher im Jüngsten Gericht fehlen. Hier nimmt die Gerechtigkeit ihren freien Lauf. Sie führt zum Tod des Ungerechten. Das jüngste Gericht steht für beides: absolute Gerechtigkeit und das Ende allen Leidens.

(Ich würde noch eine weitere, biblische Stimme anfügen, und zwar die von Josef. Er war ein Musterbeispiel, wie viel Unrecht man einem Menschen antun konnte: Seine Brüder verkauften ihn als Sklave; er wurde durch Potiphars Frau in Aegypten verleumdet und sass danach mehrere Jahre im Gefängnis. In diesen Tiefen hielt er trotzdem an Gott fest und dieser half ihm, liess seine Arbeit gelingen und beseitigte letztendlich sein ungerechtes Leiden und machte Josef zum zweitmächtigsten Mann Aegyptens. Gott verfolgte mit diesem Unrecht an Josef ein grösseres Ziel, nämlich die Rettung Jakobs und seiner Sippe, der Aegypter und weiterer Völker vor der grossen Hungersnot. In Genesis 50,20 sagte Josef nach dem Tod Jakobs in Aegypten zu seinen Brüdern: „Ja, ihr habt Böses gegen mich geplant, Elohim hat es zum Guten umgeplant, um zu tun wie an diesem Tag da, um lebendig zu erhalten ein grosses Volk.“)


Benedikt XVI.: Wo war Gott? Die Rede in Auschwitz. Mit Beiträgen von Elie Wiesel, Wladyslaw Bartoszewski und Johann Baptist Metz. Herder Freiburg im Breisgau 2006
„An diesem Ort versagen die Worte, kann eigentlich nur erschüttertes Schweigen stehen – Schweigen, das ein inwendiges Schreien zu Gott ist: Warum hast du geschwiegen? Warum konntest du dies alles dulden“
„In solchem Schweigen verbeugen wir uns inwendig vor der ungezählten Schar derer, die hier gelitten haben und zu Tode gebracht worden sind; diese Schweigen wird dann doch zur lauten Bitte um Vergebung und Versöhnung, zu einem Ruf an den lebendigen Gott, dass er solches nie wieder geschehen lasse.“
Benedikt XVI. (auf dem Umschlag vorne und hinten)


Eine wahre Geschichte des Theologen und Krimiautoren Ulrich Knellwolf
«Eines Tages kommt die Gemeindeschwester zu mir und sagt, ich solle einen Mann besuchen, der an Krebs leidet. Ich gehe hin. Der Mann liegt im Bett, klagt über Schmerzen. Trotzdem reden wir gut miteinander. Er erzählt von Südamerika, wo er lange war und wo seine Frau her ist. Nach der Pensionierung wollten sie die Hälfte des Jahres drüben verbringen. Jetzt ist er pensioniert und liegt hier im Bett, statt in Rio in der Sonne zu sitzen. «Es ist zum Heulen», sagt er mit hörbarem Zorn. Bevor ich gehe, ziehe ich, junger Pfarrer, der ich damals bin, die kleine Bibel aus der Tasche und frage, ob ich ihm einen Psalm vorlesen dürfe. Er will nicht. «Sie haben gut schöne Sätze lesen», sagt er. «Ich aber bin auf den Tod krank. Zwischen Ihrer Welt und meiner steht eine Glaswand, und ich bin nicht in Ihrer Welt, und Sie können nicht in meine Welt.» Er hat Recht. Ich spüre die gläserne Wand. Er möchte dennoch, dass ich wiederkomme. Das nächste Mal ist es schon ein wenig dämmerig im Zimmer. Er hat eine Ansichtskarte bekommen, sie steht auf dem Nachttisch. «Ach, der gekreuzigte Jesus», sage ich. «Nein», sagt er, «das ist der segnende Christus über Rio.» Wieder verstehen wir uns gut; diesmal lasse ich die Bibel in der Tasche. Als ich gehen will, fragt er: «Wie war das mit dem gekreuzigten Jesus?» Worauf ich ihm in einem halben Dutzend Sätzen die Geschichte von Golgatha erzähle. Eine Woche später hängt die Ansichtskarte an der Wand dem Bett gegenüber. «Sie haben den segnenden Christus aufgehängt», bemerke ich. «Für mich ist er der Gekreuzigte», antwortet der Kranke. Und als ich etwas verwundert schaue, fügt er an: «Wissen Sie, jetzt habe ich endlich einen Kollegen in meiner Welt.»

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Donnerstag, Februar 11, 2010

Iran: Persische Hochkultur und irrationale Macht

Hans-Peter Raddatz, der Autor dieses Buchs, geht davon aus, dass der heutige Iran nur verstanden werden kann, wenn man seine Geschichte und ursprüngliche Religion etwas kennt. Iran selber heisst Land der Arier und hat viel mit Zarathustra zu tun, der etwa 599-522 vor Christus lebte. Mit 40 Jahren hatte er Offenbarungen.
Karl Jaspers nannte diese Zeit „Achsenzeit“, als um 600 vor Christus an unterschiedlichen Weltgegenden neue Religionen und Philosophien auftraten, so auch Zarathustra, Konfuzius, Buddha, die grossen griechischen Philosophen und jüdische Propheten. Im iranischen Herrscher Kyros wurde der Befreier der Juden gesehen, so wurde er zum Gottessohn und Messias hochstilisiert. Religion war im Iran häufig manipulatives Instrument der Eliten und des Klerus. Die arische Dreiheit, Erde, Luft und Himmel, wurde zum Grundstoff der Gnosis und der Mysterienreligionen Aegyptens, Kleinasiens und Griechenlands (Amun-Re war der ägyptische Sonnengott, die Pharaonen die Söhne Gottes). Das Christentum hatte im Iran Erfolg, weil es Verbindungen mit dem iranischen Verständnis der Erlösung, den gnostischen Mysterien (Kinderzeugen ist Sünde) und der platonischen Philosophie einging.
Der Islam breitete sich im 7. Jahrhundert fast explosionsartig aus. Mohammed und seine Nachfolger verstanden es, ihre Gemeinschaft machtvoll zu formen, zu nutzen und zu vergrössern. Basis war der Koran, der mit seinen gewaltästhetischen medinesischen Suren, folgendes vorsah und ermöglichte:
· Allahs freie Wahl und somit Einschränkung des Individuums
· Nutzen für die „Umma“, Schaden für den Ungläubigen und Unterdrückung der Völker
· Diesseitige Beute und jenseitiges Heil
· Buchstabengläubigkeit und Gesetzesreligion
· Gewalt wird legitimiert und Auftragsmord wird institutionalisiert


Die Dynastie der Umayyaden, die kulturell syrisch geprägt waren, begann 660 mit Kalif Mu’awiwa und endete 750. Das ist auch das Ende der ersten Expansion in Asien (Indus und Taschkent). Unter ihrer Herrschaft wurde 691 der Felsendom in Jerusalem errichtet als Demonstration gegen Juden und Christen. 750 bis 1258 folgten die persischen Abbasiden.
661 tötete ein Kharidijite, Vertreter einer muslimischen Abspaltung, aus Rache den vierten Kalifen Ali in Kufa mit dem Schwert. Sein Grab liegt in Nadjaf, das zu einem grossen Wallfahrtsort wurde, und um seine Person begannen sich viele Legenden zu ranken. Auch beide Söhne wurden getötet: Hasan 669 und der heldenhafte Husayn im Kampf 680. Er wurde zum Vorbild der Gläubigen, er war den verborgenen Imam vorweg und überwand mit seinem Tod den Tyrannen. Sein Grab liegt in Kerbala. Das ist zugleich auch der Beginn der Schia, sie zeichnet sich aus durch:
· Dem verborgenen Imam steht das rechtmässige Kalifat Alis zu; das ist der „Mahdi“ (diese Idee geht auf den mythischen Erlöser Sayoshant zurück, der aus einer Mischung aus Zoroastrismus und Platonismus entstanden ist)
· Transzendente Lebensbilanz
· Ethische Prinzipien der ewigen Wahrheit und Gerechtigkeit: es gibt gut und böse, Unterdrückte und Unterdrücker
· Passion: Aschura ist Bussritual, das am Todestag Husayns durchgeführt wird. Es entwickelte sich von der Totenklage (963) zum Passionsspiel oder Leidensdrama (1650)
· Selbsterlösung (sich Gott ähnlich machen), Erleuchtung und Lichtmystik
· Autonomie des Verstands, des Lichts der Menschen (erst etwa um 1700 wurde dies eingeschränkt durch die Ulama, die Elitenherrschaft wollte und durchsetzte)
· Zeitehe „mot’e“ erlaubt gegen eine Gabe (was praktisch der Prostitution entspricht)
· Spaltungen: Siebner-Schia = Ismaeliten = Isma’iliya (Ismail sei entrückter Imam; gnostisch) und Zwölfer-Schia = Imamiten (Verborgener 12. Imam wird als Mahdi wiederkehren und die islamische Spaltung beenden und paradiesisches Reich der Gerechtigkeit aufrichten)


Die Aleviten, die heute hauptsächlich in der Türkei leben, sind eher eine schiitische Richtung. Sie sind beeinflusst von vorislamischen turkmenischen Bräuchen, vorchristlichen Mysterien und den Sufis. Wegen Verfolgung durch Sunniten haben sie sich angepasst durch Täuschung und Geheimhaltung. Sie besitzen daher keine schriftliche Theologie und brauchen auch keine Moschee für ihre Zeremonien. (In Wikipedia steht, dass „das Alevitentum auf dem Glauben der Zoroastrier basiere. Ursprünglich bestanden keinerlei Verbindungen mit dem Islam, dem Vierten Kalifen Ali und den Zwölf Imamen. Der Umstand, dass heute die Aleviten für die Zwölf Imame beten und bitten, hängt damit zusammen, dass diese Rituale ihnen auferlegt wurden. Seit der Machtergreifung der Jungtürken wurden hauptsächlich zwei Gruppen assimiliert: Einerseits wurden Teile der Kurden türkisiert, andererseits die Aleviten islamisiert. Dies war die Folge einer fast ein Jahrhundert andauernden Politik.“)

Die Baha’i oder Babisten gehen auf Ali Muhammad zurück, der 1850 gestorben ist. Er war in ihren Augen der auferstandene Imam, der Mahdi oder eben der Bab, der das islamische Gesetz abgeschafft hatte. Sie wurden deswegen von Sunniten und Schiiten grausam verfolgt.

Um 1900 wehrte sich die wirtschaftliche und religiöse Elite Irans gegen die englischen Rohstoff- und Handelsgesellschaften, die sich weltweit ausbreiteten. Bazaris (=Bazarbesitzer) und Mollahs bildeten eine Koalition, um gegen „Verwestlichung“ kämpfen zu können. 1921 marschierte Reza Khan, ein Kosakengeneral in Teheran ein, vier Jahre später rief er sich zum Schah „Reza Pahlevi“ aus. Seine Regierungszeit bis 1941 war von Modernisierung und Säkularisierung geprägt. 1941-79 kam sein Sohn Muhammad Reza an die Macht. Anfänglich hatte dieser Lebemann keine Ambitionen, so dass seine Minister regierten. Mit der Zeit wurde er aber zum selbstherrlichen, überheblichen Despoten. 1951 wurde Mosaddeq Premierminister, er verstaatlichte die nationale Oelcompany, die den Briten gehörte. Weitere Reformen kamen nicht durch, weil das Land zu stark durch Klan- und Mafiasystem beherrscht war.
Khomeiny war selber ein Sohn eines bekannten, ermordeten Mullahs und war zeitweilig unter dem Schah im Gefängnis, emigrierte danach in den Irak und nach Frankreich. Die Arbeit an der diesseitigen Ordnung soll den erwarteten Mahdi aus jenseitiger Ferne herbeiführen. Gebet und Politik seien der Lebenssaft seines Islam, die Tötung der Feinde diene der Säuberung der Gemeinschaft.
Am 11.12.1978, dem Ashuratag (Todestag Husayns) , verkündete er von Paris aus den Dschihad gegen den Schah. Die anbahnende Revolution liess am 16. Januar 1979 den Schah nach Aegypten, später nach Marokko und in die USA fliehen. Am 1. Februar 1979 kam Khomeiny aus seinem französischen Exil zurück und übernahm die Revolution. Er führte mit seinen Getreuen zunehmend eine islamische Kulturrevolution durch: Alles Westliche muss ausgerottet werden, auch die weltlichen Revolutionsgruppen wurden durch Pasdaran, Basidj, Ansar-e-Hizbollah (Helfer der Partei Allahs) und seinen Schlächter Sadeq Khalkali eingeschüchtert und dezimiert.
Die Revolution wurde anfänglich totalitär umgesetzt. Kapitalflucht, Staatsterror, der koranisch legitimiert ist, Korruption durch Anhänger Khomeinys, Schwarzmarkt und Drogenmissbrauch nahmen in der Folge zu. 1980-88 führte Iran gar Krieg gegen den säkular geführten Irak. Beides trieb den revolutionären Staat fast in den wirtschaftlichen Ruin. Erst nach etwa zwanzig Jahren wurde die Umsetzung pragmatischer und auch die Oeleinnahmen nahmen wieder zu, so dass die hohen Staatsschulden reduziert werden konnten.
Ein Problem des Gottesstaats ist, dass die islamische Wirtschaft keine wirkliche Theorie kennt und somit alle Formen annehmen kann. Wird beispielsweise ein Kündigungsschutz eingeführt, dann werden Arbeitgeber auf Zeitarbeit ausweichen. Zinsen sind verboten, stattdessen werden Geldgeber zum Schein mitbeteiligt und dann Dividenden ausbezahlt. Es gibt drei Eigentumsformen: private, gemeinschaftliche und staatliche, die eigentlich keinen Selbstzweck verfolgen sollten.
Handlungen werden generell in fünf Kategorien eingeteilt:
· Gebotene: fördern das Heil, bei Zuwiderhandlung straft Allah (durch die Mullahs)
· Empfohlene: fördern auch das Heil, aber bei Zuwiderhandlung gibt es keine Strafe Allahs
· Erlaubte: neutrales Tun, die weder Strafe noch Belohnung zur Folge haben
· Missbilligte: sind dem Heil hinderlich; wer sie unterlässt, den belohnt Allah
· Verbotene: Unterlassung ist Pflicht; wer sie tut, der wird von Allah bestraft

Das korrekte Tun ist also im Islam sehr wichtig, nicht so sehr Ziel, Motivation, Analyse oder konkret Arbeitsqualität. Deshalb wird auch wenig nach fachlicher Eignung gefragt und die Entwicklung einer Inlandproduktion war wenig interessant. Die islamische Ethik verhinderte sachbezogene Analyse und zivilgesetzliche Willensbildung. Die Folgen der repressiven Revolution Khomeinys waren deshalb zunehmend Vertrauensschwund, Säkularisierung und Armut eines Grossteils der Bevölkerung.
Der geringe nachhaltige Erfolg der islamischen Revolution im Landesinnern wurde durch Ausrichtung nach aussen kompensiert und gestärkt:
1982 wurde die Hizbollah, die Partei Gottes, im Libanon gegründet und die „islamische Republik Libanon“, die den schiitischen Teil umfasste. Wichtigste Ziele waren Fürsorge für die „Umma“ und Terror gegen Israel. Die Vorgängerorganisation war die Amalmiliz von Musa Sadr, der 1978 von Ghadhafi wegen Beleidigung während eines Besuchs umgebracht wurde. Seit 1982 ist Hasan Nasrallah Generalsekretär.
Der Westen soll generell durch Geduld, Gespräch und Gewalt überwunden werden. Dies entspricht dem dreifachen islamischen Kampf mit Herz, Zunge und Hand. Aber der Westen löst sich bereits selbst von seinen Wurzeln durch Dekadenz, Kindermangel, Einwanderung und rechtlichen Anpassungen. Geschichte und unliebsame Fakten sollen gelöscht werden, vieles ist erlaubt, wenn es dem islamischen Sieg dient. Dieses Vorgehen demonstriert der Präsident, Ahmad-e-Nadjad, ehemaliger Basidj-Führer, der seit 2005 im Amt ist, bestens. Er sagte beispielsweise: „Der Islam muss töten, um sich selbst am Leben zu erhalten.“

(Hans-Peter Raddatz: Iran. Persische Hochkultur und irrationale Macht. Verlag: Herbig GmbH München, Jahr 2006; ISBN-Nummer: 978-3-7766-2488-5)

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