Samstag, April 11, 2020

Han Byung-Chul: Die Austreibung des Anderen

Han Byung-Chul wurde 1959 in Südkorea geboren und hat Metallurgie, Philosophie und Theologie studiert. Er hat in Deutschland an verschiedenen Universitäten Philosophie gelehrt, zuletzt in Berlin. Er hat viele Aufsätze und Bücher auch zu sozio-ökonomischen Themen veröffentlicht, die eine weite Beachtung gefunden haben. In seinem kurzen Werk „Die Austreibung des Anderen. Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute“, das 2016 im Fischer-Verlag unter der ISBN 978-3-1039-7212-2 erschienen ist, beschreibt er seine Beobachtungen von den negativen Folgen und Auswirkungen des Neoliberalismus, der schon 1938 vom deutschen Soziologen Alexander Rüstow so benannt worden war. Er behauptet, dass wir an zu viel vom Gleichen leiden, nämlich an Überkommunikation und Überkonsumation. Dies führe zu Autoaggression, Depression und Bulimie. Wir würden zwar Informationen und Daten anhäufen, aber ohne wirkliches Wissen und Weisheit zu erlangen. Unsere menschlichen Beziehungen würden eigentlich von Nähe und Ferne leben, doch die digitale Welt bewirke eine seltsame Abstandslosigkeit und Überbelichtung, die der dauernden Verfügbarkeit, der Pornographie und dem Voyeurismus gleichen würden. Auch in der Sexualität gehe es zunehmend um Leistung, Performance und Fitness; Schwäche, Verletztlichkeit und Rückzug sind nicht mehr vorgesehen. Ein gesundes Begehren, das manchmal auch nicht erfüllt werde, gebe es kaum mehr, und Aura, Mystik und Eros würden weitgehend ignoriert, niedergewalzt und zerstört. Der zunehmende Narzissmus lenke zudem die Libido krankhaft aufs eigene Ich statt auf den Anderen, den Fremden oder das noch unbekannte „Objekt“. Viele Menschen sind heute orientierungslos, verunsichert und haben Angst vor Entscheidungen, Fehlern, Versagen, Scheitern und Unterlegenheit. Dadurch werde Sicherheit zunehmend wieder in Nationalismus, Fremdenhass, Geld, Produktivität und Aktivität gesucht. Fremdenfeindlichkeit aber sei hässlich und unversöhnlich; Versöhnung dagegen freundlich und freiheitlich gestimmt. Geld biete ein vermeintliches Gefühl von Sicherheit und Ruhe an, jedoch keine wirkliche Identität und lebendige Beziehung. Der neoliberale Geist gaukle uns ein selbstverwirklichtes Leben vor, das in Wahrheit eher auf Ausbeutung und Ausgrenzung basiere und Leere und Sinnlosigkeit hinterlasse. Trotz hoher Produktivität können wir kein gesundes Selbstwertgefühl produzieren. Denn nur am Anderen, der mich liebt, lobt, anerkennt und schätzt werde ich zum Du. Gerade durch die Anerkennung und Bewältigung von Konflikten und dem Aushalten von Spannungen entstehen und wachsen stabile Beziehungen, starke Identitäten und ein gesunder Selbstwert. Reife Personen können auch mal ein Schweigen aushalten, weil sie es als eine wichtige Sprachform verstehen. Aber die digitale Welt spielt sich oftmals an der Oberfläche ab und entfremdet uns des Anderen, des Rätsels und des Geheimnisses. „Windows“ heisst zwar Fenster, aber es bietet uns keine realen Erfahrungen an; im Gegenteil, es schränkt die Möglichkeiten eher ein, wirkliche „Schwellenerfahrungen“ zu machen. Das sind Erfahrungen, die ängstigen und beglücken, weil sie uns als Personen in der Tiefe berühren. Unser Problem ist, dass wir geteilt und der Wirklichkeit entfremdet sind und uns nicht mehr richtig körperlich spüren. Erst wenn wir gegen eine Wand laufen oder fallen, werden wir den Aufprall hart und schmerzlich zu spüren bekommen. Aktiv zuhören können sei gerade heute und auch in Zukunft eine äusserst wichtige Tätigkeit, wenn nicht sogar eine Berufung, eine Begabung und eine Kunst. Denn zuhören heisst leer sein, einatmen und den andern unvoreingenommen und gastfreundlich aufnehmen. Zuhören kann nur ein Mensch, der seinen Körper spürt und Emotionen zeigen kann. Er spürt feine Widerstände, legt im richtigen Moment Pausen ein, kann reden und schweigen und seine und des andern Grenzen respektieren. Viele Sätze von Han Byung-Chul habe ich als verdichtete Gedanken, die zudem präzise formuliert sind, empfunden. Sie regen an, sich, sein Umfeld und die heutige Zeit, neu zu reflektieren und auch eigene Schlüsse zu ziehen. Er zeigt deutlich auf, dass es grundlegende und qualitative Unterschiede gibt zwischen Mensch und Maschine, zwischen menschlicher und digitaler Kommunikation, die nicht zu unterschätzen, zu vernachlässigen und zu bagatellisieren sind.

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