Mittwoch, Februar 19, 2014

Unterdrückung und Gerechtigkeit (Seiten 255-309)

Christ sein bedeute einer Gemeinschaft anzugehören und von deren Glaubensansichten und Verhaltensweisen geprägt zu werden. Christen leben in zwei Welten, in Gott und in der Welt, in der biblischen Ueberlieferung und in der eigenen Kultur (Seite 276). Biblische Texte sind ein kanonisches Bündel überlappender Zeugnisse aus verschiedenen Kontexten für die eine Geschichte Gottes mit der Menschheit, die im Tod und der Auferstehung von Jesus Christus gipfelte. Nach Alsdair MacIntyre, dem schottisch-amerikanischen Philosophen, neigen wir im Westen dazu, zwischen Tür und Angel zu leben. Wir existieren in überschneidenden und sich wandelnden Räumen. Gerechtigkeit und Umarmung bedingen sich, sie müssen aufeinander bezogen bleiben. Gustavo Gutiérez hat gesagt, dass Gott kennen bedeute, Gerechtigkeit zu üben. Volf ergänzt aber: „Je erbitteter der Kampf gegen das Unrecht, das man erleidet, desto blinder wird man für das Unrecht, das man anderen zufügt“ (Seite 290). Er plädiert für eine doppelte Sichtweise, die auch die eigene Fehlbarkeit bejaht, bewusst macht, wach hält und umkehrt. Das ist keine Neutralität, denn die ist schädlich, weil sie die Stärkeren schützt. Für Personen, die sich auf die Schrift berufen, ist Neutralität unzulässig. Denn die Schrift, spezielle die jüdischen Profeten, ist voreingenommen zugunsten der Ohnmächtigen. Jahwe, der Gott Israels, kennt eine andere Gerechtigkeit als die „Justizia“, die dem griechisch-römischen Denken entstammt. Er hat Interesse, Freude und Beziehung zu seinem Bundesvolk Israel. Seine Gerechtigkeit umfasst Heil, Rettung, Liebe und Gnade. Deshalb soll auch unser Streben nach Gerechtigkeit im Kontext der Liebe stattfinden (Seite 299). Er schliesst sich Reinhold Niebuhr an, der gesagt hat: „Nichts, was nicht Liebe ist, kann völlige Gerechtigkeit sein“. Wenn in unseren Tagen eine Kultur auf die andere prallt und Gerechtigkeit gegen Gerechtigkeit steht, sollten wir Inspiration aus der Apostelgeschichte Kapitel zwei und sechs beziehen (Seite 308).

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Donnerstag, Februar 13, 2014

Geschlechtliche Identität (Seiten218-254)

Volf äussert sich auch sehr differenziert und sachlich zur geschlechtlichen Identität von Mann und Frau. Er unterstützt die These von Mary Stewart Van Leeuwen, dass „Männer und Frauen gleichermassen gerettet, geisterfüllt und gesandt sind“. Denn Gott steht jenseits geschlechtlicher Unterscheidungen, er ist radikal vielschichtig, beziehungsorientiert und aktiv (nach Seren Jones). Wir Menschen benutzen männliche und weibliche Metaphern, weil Gott persönlich ist, und die Sprache unweigerlich aus dem geschöpflichen Bereich entstammt. Meine geschlechtliche Identität kann ich nicht aus dem christlichen Gottesbild herleiten, sondern aus meinem geschaffenen, sexualisierten Körper. Was ich von Gott lernen kann, ist primär meine Verantwortung als Mensch, Vater- und Muttersein sind dagegen nicht direkt ablesbar. Nach Phyllis Bird hat Mann- und Frausein mehr mit den Tieren als mit Gott gemeinsam. Sexuelle Körper sind natürliche, biologische Wurzel, „Gender“ dagegen ist eine soziale und kulturelle Kategorie, die nur eingeschränkt möglich ist. „Gender“ ist eine fliessende Identität, die im Kontrast zur stabilen Differenz geschlechtlicher Körper steht (Seite 228). Jesus lebte völlige Selbsthingabe und auch Gegenwart des Vaters in ihm, was seine Identität prägte. Seine Selbsthingabe suchte Ehre der andern Person und schuf ihr Raum zur gegenseitigen Einwohnung, was in der Fachsprache „Perichorese“ heisst. Es geht dabei um Beziehung und Zusammenhang, nicht um Vermischung von Personen. Gott kam in diese Welt, um Gemeinschaft zu leben. Alle Menschen sind zum Bild des dreieinigen Gottes geschaffen, dessen Vision und Beziehungen uns als Mann und Frau leben lassen. In Christus wird nicht der geschlechtliche Leib gegenstandslos, sondern die Geschlechterrollen, die kulturellen Normen, die Mann und Frau zugewiesen sind, werden es zunehmend. Geschlechtliche Identitäten sind aufeinander bezogen: Der Mann ist nicht die ohne Frau, die Frau ist nicht ohne den Mann. Denn teilweise wohnt das Weibliche auch im Mann, trotzdem ist er ganz Mann; und umgekehrt wohnt auch Männliches in der Frau. Solange wir das verneinen, uns manipulieren, beherrschen und befeinden müssen, haben wir Gottes Wertschätzung und Liebe nicht ganz begriffen. Selbsthingabe bedeutet, dass ich Selbstsucht überwunden habe, mich auf den andern zu bewege, um ihn oder sie zu nähren, zu pflegen und ihn makellos und herrlich erscheinen zu lassen. Mann und Frau, beide sind weder Fülle noch nur Mangel, beide haben zu gebieten und zu gehorchen (Seite 248-250).

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Montag, Februar 10, 2014

Umarmung (Seiten 124-217)

Miroslav Volf zieht eine Theologie der Umarmung der Theologie der Befreiung vor; denn die Kategorien der Unterdrückung und Befreiung seien gut zum Kämpfen, nicht aber zum Verhandeln und Feiern (Seiten 129-133). Denn Sieger verwechseln (oft) Vergeltung mit Gerechtigkeit. Sogar für den Befreiungstheologen Gustavo Gutiérrez habe Liebe und nicht Freiheit die letzte Gültigkeit. "Und wie können wir in Frieden leben, solange die endgültige Versöhnung noch ausstehe? Jesus verbinde Hoffnung für die Unterdrückten mit der Forderung eines radikalen Wandels, die er Busse nenne. Dagegen diene die Religion der sündigen Seele missbräuchlich dazu, von der Oekonomie des schmutzigen Deals und von der Politik der unbarmherzigen Macht abzulenken." (Seite 146) Das Problem der Rache sieht Volf darin, dass sie versklavt. Jesus hatte Lamechs Logik ganz auf den Kopf gestellt, und er forderte seine Nachfolger auf, sooft zu vergeben wie Lamech sich rächen wollte. Und wir Menschen können uns nichts ausdenken, was das ursprüngliche Verbrechen bereinigen könnte (Seiten 154-157). Die Passion Christi war die Qual einer gemarterten Seele und eines geschundenen Leibes, der als ein Gebet für die Folterer dahingegeben wurde. Nach Bonhoeffer ist Vergebung eine Form des Leidens (Seite 161). Das Kreuz verwandelte die Beziehung zwischen dem Opfer und dem Täter. Empfänger der Gnade Gottes können wir nur dann sein, wenn wir uns auch nicht dagegen sträuben, ihre Agenten zu werden. So öffnen wir unsere Arme selbst für die Feinde; machen ihnen in uns Raum, weil der gekreuzigte Gott uns in seine ausgebreiteten Arme geschlossen hat. Denn Handeln ist die einzige angemessene Reaktion auf Leiden und lässt die Erinnerungen in den Hintergrund rücken. Und das Kreuz Christi ist ein paradoxes Denkmal des Vergessens, denn am Ende wird das Lamm auf dem Thron Gottes sitzen (Seite 168-181). Volf schreibt vom Drama der Umarmung, das er in vier Schritten einteilt: 1. Oeffnen der Arme: Raum schaffen für andern, Einladung zum Eintreten 2. Warten: auf eine Antwort, eine Reaktion 3. In Arme schliessen: es braucht zwei Arme für eine Umarmung 4. Arme wieder öffnen: erneut Raum schaffen und Differenz zulassen Die Kennzeichen der Umarmung sieht er in: 1. Fluidität der Identitäten: es gibt überlappende soziale Territorien 2. Nichtsymmetrie der Beziehungen und Anerkennung des andern („Selbstbestimmung ist eine westliche, imperialistische Zumutung, denn eigentlich sind wir alle nur Sklaven“ Daniel Boyarin) 3. Unterdeterminiertheit des Ergebnisses, das immer auch ein Risiko ist („Umarmung ist Gnade und Gnade ist Roulettspiel, immer“ Lewis B. Smedes) Volf erinnert uns auch daran, dass es wesentliche Unterscheide zwischen Verträgen und Bund gibt. Wir sind uns heute vielmehr an Verträge gewohnt, die leistungsorientiert, beschränkt verpflichtend, gegenseitig („reziprok“, spiegelnd) und zugleich instabil sind. Dagegen ist ein Bund unveräusserlich, fortwährend und hat einen hervorgehobenen Status. Er gilt auch noch, wenn er gebrochen wird. Die Identität jedes Bundespartners wird durch die Beziehung zum andern geformt. „Am Kreuz erneuert Gott den Bund, indem er der Menschheit Raum schafft in Gottes Selbst. Die offenen Arme Christi am Kreuz sind ein Zeichen, dass Gott nicht Gott sein möchte ohne die Menschheit. Und dass er die Gewalt der Menschen erleidet, um sie zu umarmen“ (Seite 200). Gott erneuert den Bund mit den Menschen durch Selbsthingabe auf ewig. Er kann seinen Bundespartner nicht aufgegeben, weil seine Verpflichtung unwiderruflich und unauflöslich ist. Der neue Bund ist Gottes Umarmung der Menschheit! Diese Theologie der Umarmung wurde angeregt von der Geschichte vom verlorenen Sohn. Hier schenkt sich der Vater dem entfremdeten Sohn und nimmt ihn wieder in sein Haus auf. Ein antiker Haushalt lebte vom Beschützen und Vermehren, von seinen Beziehungen und seiner Gemeinschaftsidentität. Beziehung beruhte nie auf moralischer Leistung, deshalb konnte der Vater seinen schmutzigen Sohn annehmen und umarmen. Durch das Schuldeingeständnis des Sohnes wurde die Beziehung geheilt. Der Vater rekonstruierte die Identität seines Sohnes, ohne ihn darum zu fragen. Der jüngere Bruder wählte zuerst den äusseren Ausschluss, der ältere jedoch den inneren. Dadurch wurde der jüngere für den älteren zum „Nicht-Bruder“, der Vater zum „Nicht-Vater“, ähnlich wie Abel bei Kain! Aber realistisch gesehen waren beide Söhne schlecht und gut, beide wurden vom Vater geliebt. Er passte seine Identität seinen Söhnen an, um sie beide zu gewinnen. Er wollte weiter ihr Vater sein, damit sie einander auch Bruder sein können. Der Vater brach die Regeln, das kausale Prinzip von „Saat und Ernte“, von „wenn-dann“. Noch heute können starre Regeln und zu stabile Identitäten zum Wahn werden und Selbstgerechtigkeit, Uebertreibung, Repression und Dämonisierung bewirken. Denn Beziehungen und Familienverhältnisse kommen vor allen Regeln, Umarmung anstelle Exklusion (Seite 217).

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