Zum Autor: Arnold Angenendt wurde 1934 im nordrheinischen Goch geboren und ist ein katholischer Theologe und Priester geworden. Als Kirchenhistoriker hatte er den Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Universität Bochum 1983 bis 1999 inne. Er vertritt mentalitäts- und sozialgeschichtliche Ansätze, die in seinen kirchengeschichtlichen Werken zum Ausdruck kommen, so in der Geschichte der Religiosität im Mittelalter (1997). Seine Schrift: Das Frühmittelalter - Die abendländische Christenheit von 400–900 (1990) wurde sogar zum Standardwerk und löste damit die kirchengeschichtlichen Werke von Hans von Schubert ab, die dieser 1902 bis 1906 verfasst hatte. Mit Toleranz und Gewalt hat er erneut ein beachtetes Werk vorgelegt.
Zum Buch: Das 799 Seiten dicke Buch mit dem Untertitel
Das Christentum zwischen Bibel und Schwert ist 2018 bei Aschendorff in Münster mit der ISBN-Nummer: 978-3-402-00215-5. Es ist eine weitreichende Untersuchung zur Geschichte über das westliche Christentum, insbesondere wie es die
Bibel bezüglich
Frieden und Gewalt verstanden und umgesetzt hat. In Kürze lässt sich sagen, dass das erste Jahrtausend viel stärker von der
Nächstenliebe und dem
Gleichnis Jesu über den Weizen und das Unkraut geprägt und dadurch friedliebender und duldsamer gegenüber Andersgläubigen war als das zweite. Angenendt behauptet dies nicht nur, sondern belegt es mit Erkenntnissen aus Forschungen vieler historischer, theologischer und soziologischer Fachleute. So zeichnet er mit diesem Werk ein differenziertes Bild der Kirchengeschichte, das sowohl Sonn- und Schattenseiten aufweist.
Eine positive Auswirkung war die
Abschaffung der Sklaverei in Europa um das Jahr 1000 (und er zitiert hier insbesondere den amerikanischen Soziologen Rodney Stark). Wegen der Gottesebenbildlichkeit der Menschen, Nächstenliebe und Brüderlichkeit und der gemeinsamen Kommunion beim Abendmahl in der Kirche liess sich die Sklavenhaltung nicht mehr rechtfertigen und halten, und sie wurde in Europa schrittweise geächtet und abgeschafft.
In Spanien wurde 1542 bis 1573 auch viel theologische und politische Kritik am
Kolonialismus geübt, aber die Ausbeutung und Verelendung der Indianer konnten die Kritiker dann doch nicht verhindern (S. 472).
Jahrhunderte später haben
William Wilberforce und die Dissenters im britischen Empire viel für die globale Sklavenbefreiung getan. Die Aufklärer übernahmen hier die Positionen der Quäker und Evangelikalen und nicht umgekehrt! Das fromme England hat weit mehr für die praktische Gleichheit der Menschen getan und erreicht als das aufklärerische Frankreich, was oft übersehen oder vergessen wird (S. 223-225). In calvinistisch geprägten Staaten waren der
Bundesgedanken (Gottes) und das
Naturrecht so wichtig, dass sich viele Bewohner aktiv an der Politik beteiligten, grobe Ungerechtigkeiten schneller beseitigt und die Anfälligkeit für autoritäre Regimes eliminiert werden konnten.
Es sind
keine kirchrechtlichen Ketzertötungen belegt bis ins Jahr 1022; erst damals liess der französische König Robert der Fromme an der Bischofssynode in Orléans einen Ketzer verbrennen. Damit wurde eine Grenze überschritten, die vorher über Jahrhunderte durch die Bibel und der aus ihr abgeleiteten gemeinsamen Moral entwickelt und gelebt wurde. Denn es galt Gottes Wort zu befolgen, seinen Sozialsinn einzuhalten, den Nächsten zu lieben und Gott das Urteil über Glauben und Unglauben zu überlassen. Christen war Heiliger Krieg wegen Friedensgebot und Missionskrieg wegen freier Entscheidung der Menschen verboten (S. 484). Für die Kreuzzüge ab 1091 waren auch durch theologisch neue und fragwürdigere Begründungen wie Rückgriffe auf Beispiele aus dem Alten Testament von Bernhard von Clairvaux und anderen diese vorher errungenen Limiten teilweise ausser Kraft gesetzt worden!
Angenendt macht auch konkrete Angaben über die Anzahl der verfolgten
Katharer in Südfrankreich: Etwa 20'000 Anhänger mussten sich vor der Inquisition verantworten. Doch sie verloren seiner Meinung nach eher wegen den gut funktionierenden Bettelorden an Einfluss und Bedeutung. Die
Waldenser wurden vor allem in Böhmen hart verfolgt, mehr als 5'000 wurden angeklagt, etwa 250 davon wurden verbrannt. Der berüchtigten
spanischen Inquisition sind 4'000 bis 6'000 Personen anzulasten, der römischen dagegen „nur“ 97 Hinrichtungen (1542-1761). Er stellt fest (und weist nach), dass die weltlichen Gerichte zur damaligen Zeit häufig viel unrechtmässiger, unfairer und brutaler vorgegangen waren. Sie waren auch für die ungefähr 50'000 Opfer der
Hexenprozesse verantwortlich, die mehrheitlich nördlich der Alpen im germanischen Raum stattfanden; die Verantwortlichen in den romanischen Kulturen waren in dieser Hinsicht deutlich zurückhaltender.
Angenendt schreibt in diesem Werk auch viel über das
Verhältnis von Juden und Christen im Lauf der Kirchengeschichte. Oft wurde der christliche Glaube als Fortsetzung des jüdischen verstanden, denn die Ethisierung des Glaubens und die Spiritualisierung des Kultes hatten bereits mit den jüdischen Propheten begonnen (S. 491). Der Vorwurf des Gottesmordes an die Juden wurde von Personen wie Johannes Chrysostomos (344-407) und Augustinus (354-430) vertreten und verbreitet, was Origenes (184-253) dagegen noch deutlich ablehnt hatte. Denn wie in der Antike war auch im Christentum das Judentum grundsätzlich
eine erlaubte Religion (S. 496).
Während dem ersten
Kreuzzug 1096 wurden 2'000 bis 2'500 Juden in Mainz, Worms und Köln ermordet, was knapp zehn Prozent aller Juden auf deutschem Gebiet waren; viele Juden in anderen Städten wurden damals von ihren christlichen Herrschern geschützt.
Während der
Pestepidemie 1348 bis 1350 fanden erneut Tausende Juden den Tod, weil man ihnen die Verbreitung dieser tödlichen Krankheit anlastete, so in Strassburg (2000? Personen), Erfurt (976), Basel (730), Worms (mehr als 580), Nürnberg (562), Konstanz (330), Trier (300) und Breslau (mehr als 250).
Die R
itualmordlegende geht auf Simon von Trient im Jahr 1475 zurück, der damals vor Ostern ermordet und dann als Märtyrer verehrt wurde. Die Schuld wurde ungerechterweise den Juden zugeschoben, die ihn angeblich verspeist hätten.
Die spanische Inquisition 1480 bis 1530 traf die
Conversos, die vom jüdischen zum katholischen Glauben konvertiert waren, besonders hart, weil man ihnen oft nicht Glauben schenken wollte. Um die 5'000 Personen fanden dadurch den Tod. 1492 wurden um die 50'000 Juden aus Spanien vertrieben, weil sie an ihrem Glauben festhalten wollten.
Angenendt geht auch teilweise auf die Situation im 19. und 20. Jahrhundert ein. Er zeigt auf, dass sich auch ein säkularer, kultureller Antisemitismus entwickelt hatte, zu dem auch Voltaire und Marx zu zählen sind. Für Marx bestand das Judentum vor allem aus Eigennutz, Schacher und Geld (S. 544). Die evangelischen Theologen und Kirchen Deutschlands seien weit anfälliger für
Judenfeindlichkeit und Nationalsozialismus gewesen, weil sie viel stärker national geprägt und ausgerichtet waren als die weltumspannende römisch-katholische Kirche. Die Pius-Päpste seien grundsätzlich judenfreundlich gewesen, wobei Pius VII zwar um die 100'000 Juden gerettet habe, aber nicht kommunikativ klar und eindeutig genug gegen den deutschen Antisemitismus und das Hitlerregime aufgetreten sei. Eine grundlegend neue
Theologie nach Auschwitz wurde notwendig, die katholischen Gelehrten Johann Baptist Metz und Erich Zenger waren hier führend im deutschen Sprachraum, sie benutzten das Alte Testament nicht mehr als Kontrastfolie (für den christlichen Glauben), sondern zeigten dessen theologischen Eigenwert deutlich auf.
Angenendt lässt auch durchblicken, dass der heutige Säkularismus wenig tragfähige Regeln und sinnvolle Lösungen für die (post)moderne Gesellschaft anzubieten habe. Deshalb zitiert er den deutschen Philosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde, der gesagt hat, dass
der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann (S. 344).
Trotz teilweise berechtigter Kritik am Christentum, insbesondere wenn es sich nicht an seinen Gründer und die neutestamentlichen Schriften hielt, weist Angenendt ausführlich nach, dass der christliche Glaube und seine Vertreter mehr positive als negative Entwicklungen in Gang gebracht haben. Das lässt sich vielleicht auch an den gut entwickelten Werten wie Freiheit, Frieden und Fairness festmachen, die uns viel Wohlstand und zahlreiche Wahlmöglichkeiten gebracht haben, auf die wir ungern verzichten würden. Das Werk
Toleranz und Gewalt ist für mich ein akribisch begründeter Beitrag zur Würdigung der langen christlichen Geschichte, die uns massgeblich geprägt hat, und die wir trotz dunklen Teilen nicht vorschnell verwerfen sollten. Denn wirklich tragfähige und sozialverträgliche Alternativen sind nicht in Sicht!
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