Samstag, April 02, 2022

Afrika wird arm regiert.

Das ist der Titel eines Werks des von Volker Seitz, das 2009 in München unter der ISBN 978-3-423-34939-0 erschienen ist. Seitz ist ein pensionierter deutscher Diplomat, der in verschiedenen Ländern Afrikas als Botschafter gearbeitet hat. Aus diesem grossen Erfahrungsschatz hat er ein Buch verfasst, worin er seine Erfahrungen verarbeitet und seine wichtigen Erkenntnisse weitergibt. Und diese sind nicht gerade schmeichelhaft für westliche und afrikanische Politiker, Organisationen und Entwicklungshelfer, aber sie sind meiner Meinung nach gut begründet und daher bedenkenswert. Er vertritt zuerst die These, dass nicht der Kolonialismus die Ursache des heutigen Elends ist (S. 34). Die Versklavungen und die Kolonialisierung (1880-1960) waren zweifellos Verbrechen. Aber in der Gegenwart plündern vor allem afrikanische Herrscher ihren Kontinent und verhindern damit einen grossen Teil der Entwicklung. Denn Afrikaner behandeln ihre Landsleute nicht selten schlecht! So waren Länder wie Ghana 1957 bei der Unabhängigkeit mit Spanien gleichauf dank guter kolonialer Infrastruktur und dem Export von Kakao. Zwischen Mauretanien und Sudan gibt es noch heute Sklaven, die einem afrikanischen Machthaber oder einer reichen muslimischen Familie gehören, und es scheint kaum jemanden zu kümmern. Afrika hat bekanntlich ein grosses Potenzial an Bodenschätzen, Landwirtschaftsprodukten und auch Tourismusdestinationen. Aber es fehlt oft an guter Regierungsführung, effizienter Verwaltung, Rechtssicherheit und gerechter Steuerpolitik. Diese Diskrepanz muss die westliche Politik und Entwicklungshilfe kennen; ansonsten hilft sie, unvollständige staatliche Strukturen und schlechte Praktiken zu stabilisieren und auszugleichen. Oft sind Geldspritzen an staatliche Stellen keine gute Lösung, weil sie Kreativität und Eigeninitiative der Empfänger reduzieren und einschränken. Zwar fordern einige afrikanische Regierungen recht schnell mit eindringlichen Parolen und gekonnten Inszenierungen Finanzhilfen, aber die gewährten Mittel begünstigen eher die Korruption in diesen Staaten, weil unabhängige Kontrollinstanzen fehlen. Manchmal werden auch sinnlose und umweltschädliche Projekte realisiert, und niemand wird dafür zur Rechenschaft und Verantwortung gezogen. Auch ein bedingungsloser Schuldenerlass ist meist unverantwortlich und entwicklungshemmend. Nur der Einsatz von Privatkapital, die Produktion von Gütern und der Handel können wirkliches Wachstum und eine positive Entwicklung ankurbeln. Die westliche Entwicklungshilfe, obwohl sie sich nun Entwicklungszusammenarbeit nennt, ist immer noch zu stark von einer Sozialhilfementalität geprägt. Sie suggeriert Gleichberechtigung, aber schafft und zementiert neue Abhängigkeiten von den nördlichen Gebern zu den südlichen Empfängern. Es gibt in Afrika bis zu 40'000 Organisationen für Entwicklungshilfe, einge hundert pro Staat. Jede Organisation unterhält oft einen riesengrossen Apparat an lokalen Mitarbeitenden, Häusern, Einrichtungen und Fahrzeugen. Der Entwicklungshilfe fehlen weitgehend Wirksamkeits- und Erfolgskontrollen mit Konsequenzen und allfälligen Sanktionen. Nur gerade 0.03 Prozent statt die notwendigen 2% der Mittel werden fürs Controlling eingesetzt. Reiche Personen in Afrika sind meistens nicht Unternehmer vor Ort, sondern Günstlinge und Profiteure eines Regimes. Afrikaner fühlen sich in erster Linie der Familie, dann dem Clan und der Ethnie und erst zuletzt ihrem Staat verpflichtet. Individuelle Freiheit und Verantwortung kommen deutlich nach den kollektiven Interessen und Verpflichtungen, die zwar vordergründig und oberflächlich als Gemeinschaft und Solidarität ausgegeben und bezeichnet werden. Bei der Gewährung von Entwicklungs- und Finanzhilfe sind folgende Themen genau zu beachten: •Einhaltung der Menschenrechte •Gewährung von Rechtssicherheit •Beteiligung der Bevölkerung an den politischen Prozessen •Stärkung der sozialen Marktwirtschaft •Förderung eines entwicklungsorientierten Staates. Regierungen sollten folgende Aufgaben erfüllen und daran gemessen werden: •Schul- und Berufsbildung aufbauen und gewährleisten •Rechtssicherheit einschliesslich Eigentumsrechte gewährleisten •Infrastruktur einschliesslich Wasser- und Stromversorgung aufbauen und sicherstellen.
Strassenszene in Guinea-Conakry

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Samstag, April 11, 2020

Han Byung-Chul: Die Austreibung des Anderen

Han Byung-Chul wurde 1959 in Südkorea geboren und hat Metallurgie, Philosophie und Theologie studiert. Er hat in Deutschland an verschiedenen Universitäten Philosophie gelehrt, zuletzt in Berlin. Er hat viele Aufsätze und Bücher auch zu sozio-ökonomischen Themen veröffentlicht, die eine weite Beachtung gefunden haben. In seinem kurzen Werk „Die Austreibung des Anderen. Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute“, das 2016 im Fischer-Verlag unter der ISBN 978-3-1039-7212-2 erschienen ist, beschreibt er seine Beobachtungen von den negativen Folgen und Auswirkungen des Neoliberalismus, der schon 1938 vom deutschen Soziologen Alexander Rüstow so benannt worden war. Er behauptet, dass wir an zu viel vom Gleichen leiden, nämlich an Überkommunikation und Überkonsumation. Dies führe zu Autoaggression, Depression und Bulimie. Wir würden zwar Informationen und Daten anhäufen, aber ohne wirkliches Wissen und Weisheit zu erlangen. Unsere menschlichen Beziehungen würden eigentlich von Nähe und Ferne leben, doch die digitale Welt bewirke eine seltsame Abstandslosigkeit und Überbelichtung, die der dauernden Verfügbarkeit, der Pornographie und dem Voyeurismus gleichen würden. Auch in der Sexualität gehe es zunehmend um Leistung, Performance und Fitness; Schwäche, Verletztlichkeit und Rückzug sind nicht mehr vorgesehen. Ein gesundes Begehren, das manchmal auch nicht erfüllt werde, gebe es kaum mehr, und Aura, Mystik und Eros würden weitgehend ignoriert, niedergewalzt und zerstört. Der zunehmende Narzissmus lenke zudem die Libido krankhaft aufs eigene Ich statt auf den Anderen, den Fremden oder das noch unbekannte „Objekt“. Viele Menschen sind heute orientierungslos, verunsichert und haben Angst vor Entscheidungen, Fehlern, Versagen, Scheitern und Unterlegenheit. Dadurch werde Sicherheit zunehmend wieder in Nationalismus, Fremdenhass, Geld, Produktivität und Aktivität gesucht. Fremdenfeindlichkeit aber sei hässlich und unversöhnlich; Versöhnung dagegen freundlich und freiheitlich gestimmt. Geld biete ein vermeintliches Gefühl von Sicherheit und Ruhe an, jedoch keine wirkliche Identität und lebendige Beziehung. Der neoliberale Geist gaukle uns ein selbstverwirklichtes Leben vor, das in Wahrheit eher auf Ausbeutung und Ausgrenzung basiere und Leere und Sinnlosigkeit hinterlasse. Trotz hoher Produktivität können wir kein gesundes Selbstwertgefühl produzieren. Denn nur am Anderen, der mich liebt, lobt, anerkennt und schätzt werde ich zum Du. Gerade durch die Anerkennung und Bewältigung von Konflikten und dem Aushalten von Spannungen entstehen und wachsen stabile Beziehungen, starke Identitäten und ein gesunder Selbstwert. Reife Personen können auch mal ein Schweigen aushalten, weil sie es als eine wichtige Sprachform verstehen. Aber die digitale Welt spielt sich oftmals an der Oberfläche ab und entfremdet uns des Anderen, des Rätsels und des Geheimnisses. „Windows“ heisst zwar Fenster, aber es bietet uns keine realen Erfahrungen an; im Gegenteil, es schränkt die Möglichkeiten eher ein, wirkliche „Schwellenerfahrungen“ zu machen. Das sind Erfahrungen, die ängstigen und beglücken, weil sie uns als Personen in der Tiefe berühren. Unser Problem ist, dass wir geteilt und der Wirklichkeit entfremdet sind und uns nicht mehr richtig körperlich spüren. Erst wenn wir gegen eine Wand laufen oder fallen, werden wir den Aufprall hart und schmerzlich zu spüren bekommen. Aktiv zuhören können sei gerade heute und auch in Zukunft eine äusserst wichtige Tätigkeit, wenn nicht sogar eine Berufung, eine Begabung und eine Kunst. Denn zuhören heisst leer sein, einatmen und den andern unvoreingenommen und gastfreundlich aufnehmen. Zuhören kann nur ein Mensch, der seinen Körper spürt und Emotionen zeigen kann. Er spürt feine Widerstände, legt im richtigen Moment Pausen ein, kann reden und schweigen und seine und des andern Grenzen respektieren. Viele Sätze von Han Byung-Chul habe ich als verdichtete Gedanken, die zudem präzise formuliert sind, empfunden. Sie regen an, sich, sein Umfeld und die heutige Zeit, neu zu reflektieren und auch eigene Schlüsse zu ziehen. Er zeigt deutlich auf, dass es grundlegende und qualitative Unterschiede gibt zwischen Mensch und Maschine, zwischen menschlicher und digitaler Kommunikation, die nicht zu unterschätzen, zu vernachlässigen und zu bagatellisieren sind.

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Mittwoch, Mai 22, 2019

N. T. Wright: Johannesevangelium - die enthüllte Herrlichkeit

Bsonders treffend und einleuchtend fand ich Tom Wrights Aussagen zum Johannesevangelium auf Seiten 135 bis 140. Er nennt es die enthüllte Herrlichkeit: Die Tempel-Christologie. Gott habe die Welt als eine Art Tempel erschaffen, als sein Eigentum und Wohnort. Sein Zelt habe er unter den Israeliten in der Stiftshütte in der Wüste und dann im Tempel in Jerusalem aufgeschlagen. An diesem Ort feierten sie seine Verheissung der ultimativen Befreiung. Daher sei die Zerstörung des Tempels 587 vor Christus das grösste Desaster gewesen, weil Gott sein Haus aufgegeben und verlassen habe. Johannes bestehe dagegen darauf, dass die Verheissung in Jesus erfüllt worden sei. Das Wort wurde Fleisch und schlug sein Zelt oder Bühnenbild (griechisch «skene») auf. Das ist ein Echo des hebräischen Wortes «shakan», das wohnen oder bleiben bedeutet. «Schechina», die zeltende oder bleibende Gegenwart Gottes wurde in den nachbiblischen jüdischen Schriften verwendet. Johannes ging davon aus, dass Jesus im vollen Sinn göttlich war, er sagte schlicht: Jesus ist Gott. So sollten wir das Johannesevangelium lesen und verstehen lernen. Im Kapitel sieben erklärte Jesus beim Laubhüttenfest, dass er das wahre, lebendige Wasser liefere. Beim Chanukkafest sagte er, dass er der wahre Hirte sei. Beim letzten Passah bestand er darauf, dass er die Welt und ihre Herrscher überwunde habe, so wie Jahwe es schon in Ägypten getan hatte. Darum betrete man beim Lesen der Kapitel 13 bis 17 nun den wahren Tempel. Gott hatte die Menschen nach seinem Bild erschaffen und drückte seine Liebe in Jesus nun so sehr aus, um Schmerz und Schrecken der Welt zu teilen und zu tragen.

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Montag, Mai 20, 2019

N. T. Wright: Reich Gottes, Kreuz, Kirche.

2015 kam im Francke-Verlag in Marburg dieses Buch von Tom Wright heraus mit der ISB-Nummer: 978-3-86827-504-9. Es trug den Untertitel: Die vergessene Story der Evangelien. Das Original erschien 2013 bei HarperCollins mit dem Titel: How God became King. Etwas zum Autor: Der Brite Nicolas Thomas Wright wurde 1948 geboren. Er ist Professor für Neues Testament und frühes Christentum, und er war anglikanischer Bischof im englischen Durham. Er gilt als einer der führenden Forscher des Lebens von Jesus und ist ein profilierter Neutestamentler, der kaum in ein aktuelles theologisches Lager passt. Zum Buch: Wrights Bücher sind keine leichte Kost, das gilt auch für sein Werk Reich Gottes, Kreuz, Kirche. Es umfasst 336 Seiten, und ich brauchte etwas Zeit, um mich an seine Denkart und an seinen Schreibstil zu gewöhnen. Hilfreich war, dass Wright seine persönliche Entwicklung zum Thema teilt. Und er will uns eine umfassendere Sicht von Gottes Absichten in der Bibel und insbesondere in den Evangelien hinweisen. Es geht um das Reich Gottes, das oft übersehen oder in eine bestimmte Richtung umgedeutet wurde. Er braucht dazu im Buch das passende Bild der vier Lautsprecher, die gebraucht werden, um einen Innenraum harmonisch zu beschallen. Nur wenn alle vier Lautsprecher im richtigen Mass aufgedreht sind, kann Musik angemessen gehört werden. Nun gibt es in unserem Raum sowohl Lautsprecher, die zu laut eingestellt sind, als auch welche, die zu wenig oder gar nicht aufgedreht wurden. Beide Situationen wirken sich ungünstig auf eine gute Tonwiedergabe aus. Übertragen gilt das auch für die Evangelien: die vier Lautsprecher sind die vier Bedeutungsstränge. Diese sind: die Story Israels (im Sinn einer bedeutungsvollen Erzählung), die Story des Gottes Israels, das erneuerte Volk Gottes und der Zusammenstoss der Reiche. Nur wenn all diese vier Bedeutungen überhaupt und im richtigen Mass gehört werden, kann das Evangelium Gottes richtig verstanden werden. Wright behauptet, dass dies bei vielen Christen und zu vielen Zeiten der Kirchengeschichte nicht der Fall gewesen sei. Das Evangelium sei oft unvollständig und einseitig verstanden und gelebt worden. Alle Glaubensbekenntnisse würden zu Unrecht das Mittelstück der Evangelien, das Reich Gottes, ausklammern. Daher sei es ausserordentlich wichtig, die vier Evangelien nochmals vollständig zu lesen, genau hinzuhören, die vielfältigen Bedeutungen aufzunehmen und das verkannte Reich Gottes wahrzunehmen. Wright beschreibt die biblische Botschaft ab Seite 234 zusammengefasst etwa wie folgt: Gott ist der Schöpfer und der Erlöser der Welt. Er berief Israel, damit er die Welt retten konnte. Und er wurde sogar selbst Israel in der Person seines repräsentativen Messias, des Knechts Jahwes, wie er schon in Jesajabuch in Kapitel 40 bis 55 beschrieben wurde. Im Danielbuch Kapitel sieben wurde er zudem als Menschensohn dargestellt. Mit Jesus hat er definitiv das Reich Gottes eingeläutet, sein Königreich, seine Herrschaft im Himmel und auf Erden aufgerichtet. Für diesen zentralen Zweck kam Jesus auf die Erde, lebte hier und starb und ist auferstanden. Jesus verkündete das Reich Gottes und forderte seine Jünger auf, Anteil daran zu nehmen und es zu ihrem Lebensmuster zu machen, obwohl sie erst wenig davon verstanden hatten. Israel wurde nicht aufgegeben und ersetzt, sondern verwandelt. Mit seinem Kommen nach Jerusalem und seinem Kreuzestod hat Jesus den heruntergekommenen Tempel(dienst) ersetzt. Er hat sowohl menschliche Gewalten als auch geistliche Mächte besiegt; er hat gezeigt, wie Gott mit dem Bösen fertig wird. Deshalb ist der Tod Jesu am Kreuz mehr als Sühne und Stellvertretung, er ist auch Liebe, Erneuerung, Sturz der Weltreiche und Tür zur neuen Gartenstadt Gottes.

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Samstag, Mai 11, 2019

Eine etwas einseitige Entwicklung

Zwar ist Guinea eines der ärmeren und am wenigsten entwickelten Länder Afrikas. Trotzdem macht es wie viele andere afrikanische Länder im Eilzugstempo eine teilweise Veränderung von der traditionellen, dörflichen Agrarwirtschaft zur städtischen Informationsgesellschaft durch. Das zeigt sich insbesondere darin, dass heute viele Guineer ein funktionierendes Handy (portables Telefon) haben, einige auch bereits ein Smartphone. Kaum einer hat ein Abonnement dafür, jedoch wird mit Prepaid telefoniert und gesurft. Dafür gibt es einige internationale Anbieter im Land. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung im Westen dauerte Jahrhunderte, in Afrika geht sie teilweise nur in Jahrzehnten über die Bühne. Das hat bestimmt Chancen, aber auch negative Folgen und Konsequenzen, weil bei einer derart schnellen Veränderung einiges vergessen und verloren geht. Ein Beispiel ist nur, dass die wenigsten Leute hier eine Ahnung vom Arbeiten mit dem Computer haben. Sie hatten nie die Chance, auch nur die grundlegenden Computerprogramme wie Word und Excel kennen und anwenden zu lernen. Zusätzlich haben viele Personen auch nicht richtig Rechnen gelernt, da in den Schulen noch zu vieles auf Eintrichtern und Auswendiglernen basiert. So fehlen hier grundlegende Rechenkenntnisse und einfache Computeranwendungen im beruflichen und geschäftlichen Alltag. Das zeigt sich wie Rechnungen ausgestellt, Buchhaltungen geführt und Arbeiten organisiert werden.

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Mittwoch, Mai 01, 2019

Hilfe zur Selbsthilfe oder für die Helfer

Kürzlich kamen zwei Jungs zur Nachhilfe, einer war ganz bei der Sache, er hat Schreibübungen gemacht und gebastelt. Er hatte aber zu grosse Flipflops an; und er fragte mich, ob ich ihm nicht Schuhe kaufen würde, am liebsten Fussballschuhe. Und er wusste, wo sie zu haben seien und was sie kosten würden. Ich fragte ihn zurück, wie er denn zur Schule gehen würde, weil er dazu geschlossene Schuhe brauche? Er leihe sich welche, war die lapidare Antwort. Die Bitte nach Schuhen wiederholte er mehrmals. Mit der Zeit bekam ich zu hören, dass sein Vater mit dem Auto zu der Hochzeitsfeier des jüngsten Bruders gefahren war und die Kinder den Verwandten oder sich selbst überlassen hatte... Ich werde dem Jungen kaum Schuhe kaufen, wiewohl mich das nicht viel kosten würde. Denn ich will nicht falsche Erwartungen und Anreize wecken und ungesunde Abhängigkeiten schaffen...
Solche und ähnliche Erlebnisse sind typisch für Guinea. Die Rolle des Weissen ist oft die des grosszügigen Helfers und des wissenden Leiters. Seine Aussagen werden kaum in Frage gestellt, und er fühlt sich in seiner Rolle als "Patron" meistens auch ganz wohl und kann seine Arbeit im Westen so noch gut "verkaufen". Das geht auch mir etwas so! Wer hat nicht schon gerne Zuwendung, Anerkennung und Bedeutung? Viele Guineer aber sind in der Rolle des bedürftigen Bittstellers, und es ist eine Art Fortführung einer unmündigen Abhängigkeit. Manchmal ist dies gar nicht so einfach zu erkennen, aber umso wichtiger zu durchbrechen. Unsere Aufgabe wäre eher die des dienenden Förderers, Ermächtigers und Beraters, der im Laufe der Zeit überflüssig werden wird. Einer, der einige Jahre in Guinea tätig ist, hat es so gesagt: Mission sollte vielmehr Gerüst statt Mauer sein, sie sollte Unterstützung zum Bau eines Gebäudes sein, jedoch nicht Fundament, Mauer oder Dach. Ist ein Haus einmal fertig erstellt, kann ein Gerüst entfernt werden, und das Gebäude besteht unabhängig davon. Immer wieder besteht für Menschen und Organisationen die grosse Versuchung, mehr als Gerüst sein zu wollen.

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Dienstag, April 09, 2019

Tom Burgis: Der Fluch des Reichtums

The Looting Macine heisst Burgis Erstlingswerk, das 2015 bei Collins in London erschienen ist. 2016 kam es bei Westend in Frankfurt unter dem Untertitel heraus: Warlords, Konzerne, Schmuggler und die Plünderung Afrikas (ISBN 978-3-86489-148-99). Kurz zum Autor: Tom Burgis war Auslandsreporter der Zeitung Financial Times im südafrikanischen Johannesburg und im nigerianischen Lagos. Er lebt in London, wo er ein Team für investigativen Journalismus leitet und als Kommentator für Radio- und Fernsehsender tätig ist. Der Fluch des Reichtums ist ein ambitioniertes Erstlingswerk. Es ist ein anspruchsvolles und herausforderndes Buch über Afrika, weil es einen tiefen Einblick in Mechanismen von Potentaten, Politikern, Unternehmer und Menschen gibt, die Widerstand leisten gegen Ausbeutung, Korruption und Ungerechtigkeit. Burgis hat dazu viele Afrikaner befragt, recherchiert und zeigt vorwiegend anhand konkreter Beispiele auf, welche fragwürdigen Vorgehensweisen und skrupellosen Machenschaften Konzerne, Staatsführer, Funktionäre und Berater anwenden, um an die wertvollen Rohstoffvorkommen in Afrika zu kommen und sich daran schamlos zu bereichern. Er gibt aber auch grundsätzliche Informationen über Afrika weiter, die es zu beachten gilt. So schreibt er auf Seite 17: Afrika hat 13 Prozent der Weltbevölkerung, generiert aber nur zwei Prozent des weltweiten Bruttoinlandproduktes. Hier lagern 15 Prozent der Rohölvorräte, 40 Prozent des Goldes und 80 Prozent des Platins des Planeten… Die reichhaltigsten Diamantenminen befinden sich in Afrika. Einer Berechnung zufolge beherbergt Afrika etwa ein Drittel aller Kohlenstoff- und Mineralressourcen der Welt. Dieser materielle Reichtum hat aber auch Kehrseiten, wie er auf Seite 97 schreibt, als er den englischen Ökonomen Paul Collier, der in Oxford lehrt, insbesondere zu Nigeria zitiert: Sobald der Anteil der Rohstoffrente acht Prozent des BIP eines Staates übersteigt, wächst die Wirtschaft eines Landes mit pluralistischem System im Durchschnitt jährlich um drei Prozentpunkte langsamer als die Wirtschaft einer ansonsten vergleichbaren Autokratie. Demokratie mit Wahlen und Rechenschaftspflicht kommt kaum zum Tragen, dagegen ein weit entwickeltes Patronagesystem mit Selbstbereicherung und Plünderung. Dieses dabei erworbene schmutzige Geld kann dann meistens nicht mehr offen und konstruktiv eingesetzt werden und verzerrt und schadet einer Volkswirtschaft. So gedeihen mafiaähnliche Organisationen und nichtstaatliche Stellen; die notwendige Infrastruktur, die allen dienen soll, Arbeitsplätze in Industrie und Landwirtschaft leiden. Ein Kapitel mit dem Titel Wenn Elefanten kämpfen, wird das Gras zertrampelt ist der Situation des westafrikanischen Staates Guineas gewidmet. Guinea, das heute demokratisch regiert wird, aber zugleich von einer ethnisch einseitig zusammengesetzten Elite geführt wird, verfügt über grosse Bauxit- und Eisenerzvorkommen. Die Firma Rusal, die dem russischen Oligarchen Oleg Deripaska gehört, ist für den Abbau des Bauxits zuständig, was seit Jahren ohne grosses Aufsehen und weitgehend reibungslos zu funktionieren scheint. Dagegen wird ein riesiges Eisenerzvorkommen in Simandou von höchster Qualität, 110 Kilometer Länge und 2,4 Mia. Tonnen Umfang, das tief im Landesinnern liegt, noch nicht abgebaut, weil die 700 Kilometer lange Bahnlinie und ein entsprechender Hafen fehlen. Vorinvestitionen in der Höhe von bis zu 20 Mia Dollar wären nötig für einen professionellen, rentablen Abbau des hochwertigen Eisenerzes. Der Staat versucht mit dem Verkauf von Schürfrechten an Rohstofffirmen wie Rio Tinto, BSGR (Beny Steinmetz Group Resources) und Vale Einnahmen zu generieren, aber das Projekt kommt wegen politischen Unsicherheiten, rechtlichen Streitigkeiten und strategischen Überlegungen der Unternehmen nicht so richtig in Fahrt. Auch der China International Fund (CIF) hat mit Energie- und Infrastrukturprojekten in Guinea eine gute und starke Ausgangsposition geschaffen, um bei solchen Geschäften mitzuwirken. Die Bevölkerung jedoch ist arm geblieben, Infrastruktur, Gesundheitswesen und Bildung sind stark rückständig und mangelhaft. Noch heute haben die ehemaligen Kolonialmächte grossen Einfluss in Afrika. Erhellend ist, was Burgis auf Seite 172 zu Frankreich schreibt: Das französische System des Einflusses über Frankreichs ehemalige Kolonien geht auf Charles de Gaulle zurück… Das französische System in Afrika, das nach de Gaulles Tod (1970) vor allem von den Gaullisten fortgeführt wurde, entwickelte sich zu einem Netz von Rohstoffgeschäften, Schmiergeldkassen und Korruption, das durch seinen Spitznamen «Francafrique» treffend zusammengefasst wird… Die aus Norwegen stammende Pariser Ermittlungsrichterin Eva Joly deckte dieses System Ende der Neunzigerjahre auf und erschütterte damit das französische Establishment. Doch die Einschätzung zur heutigen Rolle Chinas, das inzwischen viel in Afrika investiert und tätig geworden ist, ist selbst in Afrika nicht unumstritten: Der nigerianische Gouverneur Lamido Sanusi sagte: China nimmt unsere Primärgüter und verkauft uns verarbeitete Ware. Das war auch der Kern des Kolonialismus (S. 184). Was Afrika heute fehlt, sind verantwortungsvolle, weitsichtige, unabhängige und unerschrockene Führungskräfte. Sie müssen dafür besorgt sein, dass genügend Erträge aus Rohstoffen gewonnen, gerecht verteilt und zweckmässig und effizient für die Allgemeinheit eingesetzt werden. In Sambia und in Kongo gehen zurzeit nur gerade 2,4 bis 2,5 Prozent der Exporterlöse des geschürften Kupfers an den Staat. Chinua Achebe, der nigerianische Literaturnobelpreisträger, hat es so ausgedrückt: Das Problem Nigerias ist schlicht und einfach ein Mangel an Führung (S. 261). Nach seinen langen Ausführungen nimmt Burgis auch seine Lesenden in Pflicht, denn er schreibt zum Schluss: Wenn wir in unsere Handys sprechen, unsere Autos betanken oder unseren Partnern einen Antrag machen, denken wir lieber nicht an die Mütter im Ostkongo, die Slumbewohner in Luanda oder die Bergarbeiter in Marange (Zimbabwe). Solange wir uns dafür entscheiden, unseren Blick von alldem abzuwenden, wird die Plünderungsmaschine weiterlaufen (S. 304). Und die nigerianische Musikerin Nneka hat in London ihrem Publikum zugerufen: Denkt nicht, ihr hättet nichts damit zu tun (S. 307). Mit diesem flammenden Aufruf endet Burgis informatives Werk.

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Montag, April 08, 2019

Vijay Mahajan: Afrika kommt

Vijay Mahajan hat nun auch ein Buch über Afrika geschrieben mit dem Titel: Africa Rising: how 900 million African consumers offer more than you think (ISBN 978-0-13-233942-1). Es wurde 2009 übersetzt und bei Börsen Medien Kulmbach herausgegeben unter dem Titel: Afrika kommt. Der Schwarze Kontinent: Jahrhundertchance für Investoren und Unternehmer (ISBN 978-3-938350-91-1). Zum Autor: Der 1954 in Indien geborene Mahajan ist Forscher in den Bereichen Betriebs- und Volkswirtschaft und Professor für Marketing an der Universität von Texas in Austin. Er hat 2007 das weithin beachtete Werk The 86% Solution: How to Succeed in the Biggest Market Opportunity of 21st Century geschrieben, worin er die Entwicklung und die Marktchancen der Schwellenländer aufgezeigt hatte. 2009 legte er ein weiteres fundiertes Buch über die afrikanischen Märkte vor, die er auch vor Ort studiert hatte. Betrachtet man Afrika als Ganzes, ist es schon heute eine beachtliche Volkswirtschaft, die zudem ein grosses Zukunftspotenzial hat. Der Autor geht selbstverständlich tiefer, zeigt auch markante Unterschiede in Afrika anhand von Beispielen auf. Mit statistischen Daten zeigt er auf, dass es reichere Kleinstaaten wie die Seychellen und Äquatorialguinea gibt. Bevölkerungsreiche Länder wie Nigeria und Kenia sind im afrikanischen Mittelfeld angesiedelt; zu den ärmsten gehören Burundi und die demokratische Republik Kongo. Die bekannten Probleme und entwicklungshemmenden Faktoren sind oft Korruption, Verteilungs- und ethnische Konflikte, mangelnde Infrastruktur, schlechte Versorgungslage und eine vernachlässigte und ineffiziente Landwirtschaft. Der Autor lenkt unseren Blick aber besonders auf Chancen und Positives: 41 Prozent der Bevölkerung sind unter 15 Jahre alt, das sind alles potenzielle Weltmarktteilnehmer. Der Autor nennt sie «Geparden-Generation», weil sie so flexibel und optimistisch ist; im Gegensatz zur älteren «Flusspferde-Generation», die fatalistischer ist. Er unterscheidet drei Schichten, Africa One, Africa Two und Africa Three, die in etwa unseren Begriffen der Ober-, Mittel und Unterschicht entsprechen. 100 Millionen Menschen gehören zu Africa One, 400 zu Africa Two und 500 zu Africa Three. Alle haben existenzielle Grundbedürfnisse, die gestillt werden wollen. Der Autor sieht aber vor allem bei Africa Two ein grosses noch nicht ganz erschlossenes Potenzial, weil hier Produkte für die Sauberkeit, Hygiene, Gesundheit, Kommunikations- und Bewegungsmittel in grossem Mass nachgefragt werden. Insbesondere libanesische, nordafrikanische, südafrikanische, indische und chinesische Firmen haben dieses Potenzial bereits erkannt und angepasste Produkte und Dienstleistungen aufgebaut, um die afrikanischen Märkte zu durchdringen und zu bedienen. Zudem übermitteln viele Afrikaner im Westen auf unterschiedlichen Kanälen Geld, Investitionen, Hilfe und Bildung in ihre Herkunftsfamilien und -länder. Kreditkarten, Internet und Mobiltelefone eröffnen hier ungeahnte Möglichkeiten und den Zugang zum Weltmarkt, zu Allgemeinwissen und generell zu aktuellem Knowhow. Mahajan betont besonders, dass es nur dort langfristigen Erfolg für Unternehmen gibt, wo diese menschliche Bedürfnisse beachten, anerkennen und erfüllen werden. Dabei geht es häufig zuerst um Essen, Wohnen, Kleider, Gesundheit, Kommunikation und Bildung. Und Eltern setzen viel ein, um ihren Kindern eine bessere Welt zu ermöglichen. Viele Firmen kümmern sich um Probleme ihrer Kunden und Mitarbeitenden und bieten Lösungen an, ohne aus allem Profit zu schlagen. Das ist wahrscheinlich einer der besten Ansätze, um Gesellschaft und Politik positiv zu beeinflussen und zu verändern (S. 39-41 und 265-268). Noch liegt vieles im Argen, so haben 74 Prozent im ländlichen Afrika keinen Zugang zu sauberem Wasser. Aber es gibt Lösungen wie bessere Gefässe und kostengünstige Filter. Hilfe in Bildung, Gesundheit, Landwirtschaft und Ernährung lösen akute Probleme. Gezielte Investitionen, unternehmerisches Handeln und gute Führung schaffen längerfristig Entwicklung, Wachstum und Wohlstand, was auch für Afrika gilt. In vielen Gegenden Afrikas fehlt es auch an statistischen Daten und Marktforschung; gerade hier sind kreative, innovative und mutige Unternehmer gefragt, die bereit sind, vor Ort Daten zu erheben und zu forschen und in Produkte und Dienstleistungen einfliessen zu lassen.

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Donnerstag, April 04, 2019

Abenteuer Afrika

Nachdem ich fast 54 Jahre in der Schweiz gelebt habe, sind meine Frau und ich Anfang 2019 nach Guinea-Conakry in Westafrika umgezogen. Wir werden die nächsten Jahre in dieser afrikanischen Hauptstadt für eine Nonprofitorganisation arbeiten, die seit mehreren Jahrzehnten in diesem Land tätig ist. Schon im voraus habe ich gewusst, dass das meine Weltsicht und Perspektive nachhaltig verändern wird. Nun vor Ort spüren wir es an Leib und Seele. Vieles ist anders als gewohnt, einiges ist gut so, anderes wie Armut und Abfall schreit und stinkt zum Himmel! Meine nächsten Posts werden dies etwas näher und tiefer reflektieren. Unsere Erfahrungen sind in einem anderen Blog aufgezeichnet; http://connie-flah.blogspot.com Zwei guineische Knaben in Kissidougou

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Montag, Juli 23, 2018

Arnold Angenendt: Toleranz und Gewalt

Zum Autor: Arnold Angenendt wurde 1934 im nordrheinischen Goch geboren und ist ein katholischer Theologe und Priester geworden. Als Kirchenhistoriker hatte er den Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Universität Bochum 1983 bis 1999 inne. Er vertritt mentalitäts- und sozialgeschichtliche Ansätze, die in seinen kirchengeschichtlichen Werken zum Ausdruck kommen, so in der Geschichte der Religiosität im Mittelalter (1997). Seine Schrift: Das Frühmittelalter - Die abendländische Christenheit von 400–900 (1990) wurde sogar zum Standardwerk und löste damit die kirchengeschichtlichen Werke von Hans von Schubert ab, die dieser 1902 bis 1906 verfasst hatte. Mit Toleranz und Gewalt hat er erneut ein beachtetes Werk vorgelegt. Zum Buch: Das 799 Seiten dicke Buch mit dem Untertitel Das Christentum zwischen Bibel und Schwert ist 2018 bei Aschendorff in Münster mit der ISBN-Nummer: 978-3-402-00215-5. Es ist eine weitreichende Untersuchung zur Geschichte über das westliche Christentum, insbesondere wie es die Bibel bezüglich Frieden und Gewalt verstanden und umgesetzt hat. In Kürze lässt sich sagen, dass das erste Jahrtausend viel stärker von der Nächstenliebe und dem Gleichnis Jesu über den Weizen und das Unkraut geprägt und dadurch friedliebender und duldsamer gegenüber Andersgläubigen war als das zweite. Angenendt behauptet dies nicht nur, sondern belegt es mit Erkenntnissen aus Forschungen vieler historischer, theologischer und soziologischer Fachleute. So zeichnet er mit diesem Werk ein differenziertes Bild der Kirchengeschichte, das sowohl Sonn- und Schattenseiten aufweist.
Eine positive Auswirkung war die Abschaffung der Sklaverei in Europa um das Jahr 1000 (und er zitiert hier insbesondere den amerikanischen Soziologen Rodney Stark). Wegen der Gottesebenbildlichkeit der Menschen, Nächstenliebe und Brüderlichkeit und der gemeinsamen Kommunion beim Abendmahl in der Kirche liess sich die Sklavenhaltung nicht mehr rechtfertigen und halten, und sie wurde in Europa schrittweise geächtet und abgeschafft. In Spanien wurde 1542 bis 1573 auch viel theologische und politische Kritik am Kolonialismus geübt, aber die Ausbeutung und Verelendung der Indianer konnten die Kritiker dann doch nicht verhindern (S. 472). Jahrhunderte später haben William Wilberforce und die Dissenters im britischen Empire viel für die globale Sklavenbefreiung getan. Die Aufklärer übernahmen hier die Positionen der Quäker und Evangelikalen und nicht umgekehrt! Das fromme England hat weit mehr für die praktische Gleichheit der Menschen getan und erreicht als das aufklärerische Frankreich, was oft übersehen oder vergessen wird (S. 223-225). In calvinistisch geprägten Staaten waren der Bundesgedanken (Gottes) und das Naturrecht so wichtig, dass sich viele Bewohner aktiv an der Politik beteiligten, grobe Ungerechtigkeiten schneller beseitigt und die Anfälligkeit für autoritäre Regimes eliminiert werden konnten. Es sind keine kirchrechtlichen Ketzertötungen belegt bis ins Jahr 1022; erst damals liess der französische König Robert der Fromme an der Bischofssynode in Orléans einen Ketzer verbrennen. Damit wurde eine Grenze überschritten, die vorher über Jahrhunderte durch die Bibel und der aus ihr abgeleiteten gemeinsamen Moral entwickelt und gelebt wurde. Denn es galt Gottes Wort zu befolgen, seinen Sozialsinn einzuhalten, den Nächsten zu lieben und Gott das Urteil über Glauben und Unglauben zu überlassen. Christen war Heiliger Krieg wegen Friedensgebot und Missionskrieg wegen freier Entscheidung der Menschen verboten (S. 484). Für die Kreuzzüge ab 1091 waren auch durch theologisch neue und fragwürdigere Begründungen wie Rückgriffe auf Beispiele aus dem Alten Testament von Bernhard von Clairvaux und anderen diese vorher errungenen Limiten teilweise ausser Kraft gesetzt worden! Angenendt macht auch konkrete Angaben über die Anzahl der verfolgten Katharer in Südfrankreich: Etwa 20'000 Anhänger mussten sich vor der Inquisition verantworten. Doch sie verloren seiner Meinung nach eher wegen den gut funktionierenden Bettelorden an Einfluss und Bedeutung. Die Waldenser wurden vor allem in Böhmen hart verfolgt, mehr als 5'000 wurden angeklagt, etwa 250 davon wurden verbrannt. Der berüchtigten spanischen Inquisition sind 4'000 bis 6'000 Personen anzulasten, der römischen dagegen „nur“ 97 Hinrichtungen (1542-1761). Er stellt fest (und weist nach), dass die weltlichen Gerichte zur damaligen Zeit häufig viel unrechtmässiger, unfairer und brutaler vorgegangen waren. Sie waren auch für die ungefähr 50'000 Opfer der Hexenprozesse verantwortlich, die mehrheitlich nördlich der Alpen im germanischen Raum stattfanden; die Verantwortlichen in den romanischen Kulturen waren in dieser Hinsicht deutlich zurückhaltender.
Angenendt schreibt in diesem Werk auch viel über das Verhältnis von Juden und Christen im Lauf der Kirchengeschichte. Oft wurde der christliche Glaube als Fortsetzung des jüdischen verstanden, denn die Ethisierung des Glaubens und die Spiritualisierung des Kultes hatten bereits mit den jüdischen Propheten begonnen (S. 491). Der Vorwurf des Gottesmordes an die Juden wurde von Personen wie Johannes Chrysostomos (344-407) und Augustinus (354-430) vertreten und verbreitet, was Origenes (184-253) dagegen noch deutlich ablehnt hatte. Denn wie in der Antike war auch im Christentum das Judentum grundsätzlich eine erlaubte Religion (S. 496). Während dem ersten Kreuzzug 1096 wurden 2'000 bis 2'500 Juden in Mainz, Worms und Köln ermordet, was knapp zehn Prozent aller Juden auf deutschem Gebiet waren; viele Juden in anderen Städten wurden damals von ihren christlichen Herrschern geschützt. Während der Pestepidemie 1348 bis 1350 fanden erneut Tausende Juden den Tod, weil man ihnen die Verbreitung dieser tödlichen Krankheit anlastete, so in Strassburg (2000? Personen), Erfurt (976), Basel (730), Worms (mehr als 580), Nürnberg (562), Konstanz (330), Trier (300) und Breslau (mehr als 250). Die Ritualmordlegende geht auf Simon von Trient im Jahr 1475 zurück, der damals vor Ostern ermordet und dann als Märtyrer verehrt wurde. Die Schuld wurde ungerechterweise den Juden zugeschoben, die ihn angeblich verspeist hätten. Die spanische Inquisition 1480 bis 1530 traf die Conversos, die vom jüdischen zum katholischen Glauben konvertiert waren, besonders hart, weil man ihnen oft nicht Glauben schenken wollte. Um die 5'000 Personen fanden dadurch den Tod. 1492 wurden um die 50'000 Juden aus Spanien vertrieben, weil sie an ihrem Glauben festhalten wollten. Angenendt geht auch teilweise auf die Situation im 19. und 20. Jahrhundert ein. Er zeigt auf, dass sich auch ein säkularer, kultureller Antisemitismus entwickelt hatte, zu dem auch Voltaire und Marx zu zählen sind. Für Marx bestand das Judentum vor allem aus Eigennutz, Schacher und Geld (S. 544). Die evangelischen Theologen und Kirchen Deutschlands seien weit anfälliger für Judenfeindlichkeit und Nationalsozialismus gewesen, weil sie viel stärker national geprägt und ausgerichtet waren als die weltumspannende römisch-katholische Kirche. Die Pius-Päpste seien grundsätzlich judenfreundlich gewesen, wobei Pius VII zwar um die 100'000 Juden gerettet habe, aber nicht kommunikativ klar und eindeutig genug gegen den deutschen Antisemitismus und das Hitlerregime aufgetreten sei. Eine grundlegend neue Theologie nach Auschwitz wurde notwendig, die katholischen Gelehrten Johann Baptist Metz und Erich Zenger waren hier führend im deutschen Sprachraum, sie benutzten das Alte Testament nicht mehr als Kontrastfolie (für den christlichen Glauben), sondern zeigten dessen theologischen Eigenwert deutlich auf. Angenendt lässt auch durchblicken, dass der heutige Säkularismus wenig tragfähige Regeln und sinnvolle Lösungen für die (post)moderne Gesellschaft anzubieten habe. Deshalb zitiert er den deutschen Philosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde, der gesagt hat, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann (S. 344). Trotz teilweise berechtigter Kritik am Christentum, insbesondere wenn es sich nicht an seinen Gründer und die neutestamentlichen Schriften hielt, weist Angenendt ausführlich nach, dass der christliche Glaube und seine Vertreter mehr positive als negative Entwicklungen in Gang gebracht haben. Das lässt sich vielleicht auch an den gut entwickelten Werten wie Freiheit, Frieden und Fairness festmachen, die uns viel Wohlstand und zahlreiche Wahlmöglichkeiten gebracht haben, auf die wir ungern verzichten würden. Das Werk Toleranz und Gewalt ist für mich ein akribisch begründeter Beitrag zur Würdigung der langen christlichen Geschichte, die uns massgeblich geprägt hat, und die wir trotz dunklen Teilen nicht vorschnell verwerfen sollten. Denn wirklich tragfähige und sozialverträgliche Alternativen sind nicht in Sicht!

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Sonntag, Juni 24, 2018

David Platt: Keine Kompromisse - Radical

Zum Autor: David Platt studierte Journalismus, Theologie und Philosophie. Das New Orleans Baptist Theological Seminary verlieh ihm einen Doktortitel in Philosophie. Er war baptistischer Pastor in Brook Hills, einer grossen Gemeinde in Birmingham in Alabama. Er ist als Bibelausleger weltweit tätig. Seit 2014 ist er Präsident der Southern Baptist International Mission Board (IMB). Er ist verheiratet mit Heather, sie haben vier Kinder und wohnen in Richmond, Virginia. Zum Buch: Es ist unscheinbar grün mit weissen Buchstaben gestaltet und heisst Keine Kompromisse. Jesus nachfolgen – um jeden Preis, einen für mich etwas unglücklich gewählten deutschen Titel. In Englisch heisst es passender Radical und war sogar auf der Bestsellerliste der New York Times. Nach dem Lesen des Buches würde ich es positiv Jesus nachfolgen um einen lohnenden Preis nennen. Denn David Platt versteht es, Wesentliches der Jesusnachfolge aufzuzeigen und dies in Kontrast zum heutigen westlichen Lebensstil und Kontext zu stellen. Darin zeigt er geistliche Leidenschaft, Klarheit, Unterscheidungsvermögen und Unbeirrbarkeit. Einige Lebensgewohnheiten der amerikanischen Evangelikalen stellt er radikal in Frage, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass auch viele europäische Christen sich genauso von Jesus, seinem Ruf und seinen Massstäben entfernt haben, ohne es wahrhaben zu wollen. So schreibt er auf Seite 41: Jesus ist nicht mehr der, der angenommen oder eingeladen werden soll, sondern der, der unseren sofortigen und völligen Unterwerfung unendlich würdig ist. Platt beschreibt und karikiert auch, wie eine „erfolgreiche“ westliche Gemeinde aussieht und was sie ausmacht auf Seite 50: Als Erstes brauchen wir eine gute Show. In unterhaltungsgesteuerten Kulturen brauchen wir jemand, der die Massen fesseln kann. Ohne einen charismatischen Redner sind wir dem Untergang geweiht… Wenn dann schliesslich die Massen kommen, brauchen wir etwas, damit sie wiederkommen. Also müssen wir Programme starten – erstklassige, spitzenmässige Programme – für Kinder, für Jugendliche, für Familien, für jedes Alter und jeden Stand. Um diese Programme zu realisieren, brauchen wir Profis, die sie durchführen. Dadurch können zum Beispiel Eltern ihre Kinder einfach an der Tür abgeben, und die Profis übernehmen den Dienst für sie. Wir möchten nicht, dass Eltern das zu Hause selber versuchen… Aber was komischerweise in diesem Bild der Präsentationen, Persönlichkeiten, Programme und Profis fehlt, ist unsere äusserste Sehnsucht nach der Kraft Gottes. Platt versucht ein möglichst biblisches Bild von Gott und den Menschen zu zeichnen, daher schreibt er auf Seite 66-75: Gott hat uns geschaffen, um eine enge Beziehung mit ihm zu geniessen, seinen Segen und seine Gnade; um sein Ebenbild zu sein, und es zu vervielfachen, und so seine Ehre zu verbreiten. Er macht uns aufmerksam, dass Gottes Gnade und Ehre nicht getrennt werden dürfen, sonst werde der Egoismus gefördert. Gott rettet uns mit einem Ziel. Jeder gerettete Mensch diesseits des Himmels schuldet das Evangelium jedem verlorenen Menschen diesseits der Hölle. Platt zeigt auch deutlich auf, dass das Neue Testament und im besonderen Jesus keinen Erfolg, keinen Wohlstand, kein Ansehen und auch keine sichtbare Kirche predigen, sondern das noch unsichtbare oder unscheinbare Reich Gottes. Auf Seite 115 schreibt er dazu: In der Morgendämmerung dieser neuen Phase der Heilsgeschichte verspricht keiner der Lehrer (einschliesslich Jesus) im Neuen Testament je materiellen Besitz als Belohnung für Gehorsam. Als wäre das nicht schon bestürzend genug für die Juden des ersten Jahrhunderts (und die Christen des 21. Jahrhunderts), sehen wir auch keinen Vers im Neuen Testament, in dem Gottes Volk je wieder aufgefordert würde, einen majestätischen Ort der Anbetung zu bauen. Stattdessen wird den Leuten Gottes gesagt, dass sie selbst der Tempel sein sollen – der Ort der Anbetung. Und ihre Besitztümer sollen nicht dafür eingesetzt werden, einen Ort zu bauen, an den Menschen kommen können, um Gottes Herrlichkeit zu sehen, sondern ein Volk zu bauen, das die Ehre Gottes in die Welt hinausträgt. Für Platt ist Jesus Christus die eine Stimme, die uns in allen Entscheidungen unseres Lebens leiten will, die uns viel Neues geben, aber auch das bisherige Gefühl von gewohnter Sicherheit und illusionärer Stabilität nehmen muss (S. 119-120). Ab Seite 139, gegen Ende des Buches, stellt Platt nochmals die sieben wichtigsten Wahrheiten des Römerbriefs dar, wie sie bereits der amerikanische presbyterianische Theologe R. C. Sproul in seinem 1982 erschienenen Buch: Reason to Believe – A Response to Common Objections to Christianity, vorgezeichnet hatte. 1. Alle Menschen wissen von Gott 2. Alle Menschen lehnen Gott ab (und betreiben somit Götzendienst) 3. Alle Menschen sind vor Gott schuldig (und es gibt keine Unschuldigen) 4. Alle Menschen sind verurteilt, weil sie Gott ablehnen 5. Gott hat einen Weg der Rettung für die Verlorenen geschaffen 6. Alle Menschen können im Glauben an Christus zu Gott kommen 7. Gott befiehlt seiner Gemeinde, das Evangelium allen Menschen zu verkündigen Wie in vielen christlichen Auslegungen fehlt auch hier eine angemessene Aussage zur Stellung und Aufgabe Israels, wie sie im Römerbrief in Kapitel 9 bis 11 von Paulus so eindrücklich beschrieben worden ist. Das ist die einzige wirkliche Schwäche an diesem Buch. Auf Seite 182 empfiehlt Platt als Umsetzung dieser Wahrheiten: 1. für die gesamte Welt zu beten 2. die ganze Bibel in einem Jahr durchzulesen 3. Geld für einen bestimmten Zweck zu opfern 4. Zeit ausserhalb des gewohnten Umfelds zu investieren 5. aktives Mitglied einer sich vervielfältigenden Gemeinschaft zu sein

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