Donnerstag, August 24, 2006

John Bradschaw: Das Kind in uns

Da ich viel lese und sammle, möchte ich meine wichtigsten Zusammenfassungen all denen zur Verfügung stellen, die daran interessiert sind.
"Das Kind in uns" von John Bradshaw, das bei Droemer in Münschen 1992 erschienen ist, hat mich tief beeindruckt, so dass ich es zusammengefasst habe.

Etwas zum Autoren: John Bradshaw kann man nicht gerade als astreinen Christen bezeichnen. Er beruft sich auch relativ selten explizit auf den christlichen Glauben, das macht ihn mir symphatisch. Trotzdem habe ich viel von seinen grundsätzlichen Gedanken über Familiensysteme gelernt, weil er fähig ist, komplexe, schwer durchschaubare Zusammenhänge in klare Sätze zu fassen und starke Ausdrücke zu kleiden. Er ist heute eine Kapazität auf dem Gebiet der Familientherapie. Er wuchs in Houston, Texas, auf und erlebte eine schwierige Kindheit, weil sein Vater Alkoholiker war. Er studierte katholische Theologie in Kanada, wandte sich kurz vor der Ordinierung von der Kirche ab und war dann als Psychotherapeut und Managementberater tätig. Er versteht es wie nur wenige Personen, die Prozesse, die wir als Kinder durchleben, zu reflektieren und in tiefsinnige Aussagen zu packen: Keiner von uns hat eine ideale Kindheit erlebt, wir alle haben kleinere oder grössere Verletzungen abbekommen. Diese wirken oft weit ins Erwachsenenalter hinein und bestimmen uns und unsere Beziehungen wesentlich mit. Von diesen Verletzungen und von Heilungsprozessen, die möglich sind, schreibt John Bradshaw in seinem 384seitigen Buch, das vom Amerikanischen ins Deutsche übersetzt wurde. Nachfolgend gebe ich nur einige prägnante Aussagen, die er vorwiegend im ersten Teil dieses Buches macht, weiter:

Aus „Narzisstische Störungen“ auf Seite 31: „Jedes Kind braucht vorbehaltslose Liebe – zumindest zu Anfang. Das Kind muss sich in den Augen eines wohlwollenden Erwachsenen spiegeln können, sonst hat es keine Möglichkeit, zu erfahren, wer es ist. Jeder von uns war zuerst ein Wir, bevor er ein Ich wurde. Wir brauchten ein Gesicht, in dem wir alle Teile unseres Selbst wie in einem Spiegel erkennen können. Wir brauchten die Gewissheit, dass wir uns auf die Liebe der Bezugsperson, die sich um uns kümmerte, verlassen konnten, Das waren unsere gesunden narzisstischen Bedürfnisse. Wenn sie nicht befriedigt wurden, wurde unserem Gefühl für unsere Ichhaftigkeit Schaden zugefügt.“

Aus „Vertrauensprobleme“ auf Seite 32: „Wenn Bezugspersonen nicht vertrauenswürdig sind, entwickeln die Kinder mit der Zeit ein tiefes Gefühl des Misstrauens. Die Welt erscheint ihnen als ein gefährlicher, feindseliger und unberechenbarer Ort. Das Kind muss dann lernen, immer auf der Hut zu sein und die Situation unter Kontrolle zu behalten. Es ist schliesslich überzeugt, „wenn ich alles unter Kontrolle habe, kann mich niemand überraschen und verletzen“.“

Aus „Störungen der Intimität“ auf Seite 38: „Viele erwachsene Kinder sind ständig zwischen der Angst vor dem Alleingelassenwerden und der Angst vor dem Verschlungenwerden hin und her gerissen. Die einen leben in ständiger Isolation, weil sie Angst haben, von einem anderen Menschen erdrückt zu werden. Die anderen sind nicht in der Lage, eine zerstörerische Beziehung zu beenden, weil sie panische Angst vor dem Alleinsein haben. Die meisten Menschen bewegen sich zwischen diesen beiden Extremen.“
Dazu weiter auf Seite 40: „Es ist unmöglich, Intimität zu realisieren, wenn man kein Selbstwertgefühl hat. Wie soll man sich einem anderen Menschen hingeben können, wenn man selbst nicht weiss, wer man ist? Wie soll man sich einem anderen mitteilen können, wenn man nicht weiss, wer man wirklich ist?
Eine Möglichkeit, ein starkes Gefühl für sich selbst zu entwickeln, besteht darin, feste Grenzen zu ziehen. Wie die Grenzen eines Landes beschützen uns auch die Grenzen unseres Körpers, indem sie uns signalisieren, wenn uns jemand zu nahe kommt oder versucht, uns in unangemessener Weise zu berühren.. Unsere selbstbestimmten Grenzen in der Sexualität sorgen dafür, dass wir uns sexuell sicher und geborgen fühlen. (Menschen, die instabile sexuelle Grenzen haben, haben häufig Sex, obwohl sie es gar nicht wollen.)“
Dazu weiter auf Seite 42: „Die Erniedrigung eines anderen Menschen zum Sexualobjekt ist die Geissel der wahren Intimität. Intimität erfordert zwei vollständige Menschen, von denen jeder den anderen als Individuum achtet.“

Aus "Denkstörungen" auf Seite 45 & 46: „Jean Piaget nannte Kinder „kognitive Fremdlinge“. Sie denken anders als Erwachsene und neigen zum Absoluten. Ihr Denken ist durch ein Alles-oder-Nichts-Prinzip gekennzeichnet. Wenn du mich nicht liebst, dann hasst du mich. Dazwischen gibt es nichts anderes. Wenn mein Vater mich verlässt, werden mich alle Männer verlassen. Kinder sind nicht logisch. Das lässt sich am besten an einem Phänomen zeigen, das man „emotionales Argumentieren“ nennt. Ich habe ein bestimmtes Gefühl, also muss es so sein. Wenn ich mich schuldig fühle, muss ich eine verderbte Person sein.
Kinder brauchen eine ausgewogene Erziehung, damit sie lernen, wie man das Denken vom Fühlen unterscheidet – wie man über Gefühle nachdenkt und ein Gefühl für seine Gedanken entwickelt. Kinder denken egozentrisch, was dadurch zum Ausdruck kommt, dass sie alles personalisieren. Wenn Dad keine Zeit für mich hat, bedeutet das, dass mit mir irgend etwas nicht stimmt. Kinder interpretieren die meisten Beschimpfungen so. Sie sind von Natur aus egozentrisch, ohne dass das ein Zeichen für Egoismus im moralischen Sinn sein muss. Kindern fällt es eben noch schwer, den Standpunkt eines anderen Menschen einzunehmen.

Aus "Optimismus" auf Seite 56 & 57: „Der natürliche Lebensfunke des Kindes drängt es dazu, die Welt auf eine optimistische Art zu erforschen. Wenn seine Bezugspersonen auch nur in etwa berechenbar sind, lernt das Kind, der Aussenwelt zu vertrauen, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Kinder gehen natürlicherweise davon aus, dass die Welt ihnen freundlich gesinnt ist; sie sind voller Hoffnung, und es erscheint ihnen nichts unmöglich zu sein. Dieser natürliche Optimismus und dieses Vertrauen sind der Kern dessen, was uns die Natur mitgegeben hat, und die Säulen des sogenannten „kindlichen Glaubens“.
Dieser natürliche Optimismus und das Vertrauen der Kinder machen sie so verwundbar. Wenn ein Kind seinen Bezugspersonen völlig vertraut, ist es sehr verletzlich, wenn es beschimpft oder auf andere Weise angegriffen wird.

Aus "Naivität" auf Seite 58: Die Eltern oder die anderen erwachsenen Bezugspersonen müssen Geduld haben und verständnisvoll sein. Wenn ihnen diese Eigenschaften fehlen, erwarten sie zuviel von ihrem Kind. In den meisten Fällen von Kindesmisshandlungen, die mir bekannt sind, war der misshandelnde Elternteil fest davon überzeugt, dass das Kind in böser Absicht gehandelt hatte. Alle diese Erwachsenen hatten von dem Kind einen Reifegrad erwartet, der seinem tatsächlichen Alter überhaupt nicht entsprach.“

Aus "Einzigartigkeit" auf Seite 65 & 66: „Das natürliche Gefühl eines Kindes für Werte und Würde ist sehr anfällig, da es ständig von der unmittelbaren Rückmeldung und dem Echo der Bezugsperson abhängt, von der es versorgt wird. Wenn die Bezugsperson dem Kind kein wirklichkeitsgetreues und liebevolles Feedback gibt, verliert es das Gefühl dafür, dass es etwas Besonderes und Einzigartiges ist.
Zur Spiritualität gehört etwas, das tief in uns verborgen liegt und unser authentischster Teil ist – unser wahres Selbst. Wenn wir spirituell sind, stehen wir im Kontakt mit unserer Einzigartigkeit und Besonderheit. Das ist unser elementares Sein, unsere Ichhaftigkeit. Zur Spiritualität gehört ausserdem ein Gefühl für die Verbindung mit etwas, was grösser ist als wir selbst, und auf das wir uns gründen. Kinder sind von Natur aus gläubig – sie wissen, dass es etwas gibt, was grösser ist als sie selbst.
Ich glaube, dass unsere Ichhaftigkeit der Wesenskern dessen ist, was unsere Aehnlichkeit mit Gott ausmacht. Wenn ein Mensch ein Gefühl für diese Qualität hat, ist er in Harmonie mit sich und kann sich selbst annehmen. Kinder können das von Natur aus. Schauen Sie sich irgendein gesundes Kind an, dann werden Sie bei ihm einen Ausdruck erkennen, der besagt: „Ich bin, wer ich bin.“ Interessanterweise sagt Gott zu Moses in der Theophanie des brennenden Dornbuschs (Exodus 3,14): „Ich bin der „Ich-bin-da“.“ In diesem ICH BIN liegt der tiefste Sinn menschlicher Spiritualität, der alle Eigenschaften einschliesst, die mit dem Wertvollen, Besonderen verbunden sind. Im Neuen Testament findet sich immer wieder eine Situation, in der Jesus dem „Einzelnen“ die Hand reicht: dem verirrten Lamm, dem verlorenen Sohn, dem Menschen, der es verdient, dass man sich bis zum letzten Atemzug für ihn einsetzt. Der „Einzelne“ ist der, der er ist; es hat ihn vorher nie gegeben und es wird ihn auch nicht noch einmal geben.“

Aus "Liebe" auf Seite 66 & 67: „Kinder sind von Natur aus prädestiniert, zu lieben und ihre Zuneigung auszudrücken. Trotzdem muss jedes Kind erst geliebt werden, bevor es selbst lieben kann. Es lernt lieben, indem es selbst geliebt wird. Montagu schreibt: “Von allen menschlichen Bedürfnissen ist das Bedürfnis, geliebt zu werden ... das elementarste ... Es ist ein Bedürfnis, das uns menschlich werden lässt.“
Kein Säugling besitzt die Fähigkeit zu einer reifen, altruistischen Liebe. Er liebt auf eine Art, die seinem Alter entspricht. Die gesunde Entwicklung des Kindes hängt davon ab, dass es von einem Menschen geliebt wird, der es vorbehaltlos akzeptiert. Wenn dieses Bedürfnis befriedigt wird, wird die Liebeseneregie des Kindes freigesetzt, so dass es andere lieben kann.
Wenn das Kind in der Seele des Erwachsenen so schwer verletzt worden ist und unter solchen entbehrungen leiden musste, kann der Erwachsene später nur noch einen schwachen Widerhall aus der Welt der anderen Menschen wahrnehmen. Sein Hunger nach Liebe lässt ihn nie los. Das Bedürfnis bleibt bestehen, und das verletzte Kinde in ihm füllt diese Leere auf die Weise aus, die ich beschrieben habe.“

Aus "Sexueller Missbrauch" auf Seite 70: „Darunter versteht man, dass das Kind von einem Erwachsenen zur Befriedigung seiner sexuellen Lust missbraucht wird. Das Kind lernt dadurch, dass es für den Erwachsenen nur dann eine Bedeutung hat, wenn es sich sexuell betätigt. Die Folge einer solchen Verletzung ist, dass der Mensch als Erwachsener glaubt, er könne wahre Liebe eines anderen Menschen nur dann erringen, wenn er ein phantastischer Liebhaber oder ein sexuell ungewöhnlich attraktiver Mensch ist. Es gibt viele Formen des sexuellen Missbrauchs. Die nichtkörperlichen sind die, die am häufigsten nicht erkannt werden und das Opfer auf die schlimmste Weise neurotisieren.
Um nichtkörperlichen oder emotionalen sexuellen Missbrauch richtig verstehen zu können, müssen wir begreifen, dass die Familie ein soziales System ist, das seine eigenen Gesetze hat...
Das Familiensystem besteht ausserdem aus Komponten, von denen die wichtigste die Ehe ist. Wenn die Intimbeziehung der Ehe gestört ist, übernimmt das Familienprinzip des Gleichgewichts und des Ausgleichs das Regiment. Die Familie braucht eine gesunde Ehe, um im Gleichgewicht bleiben zu können. Wenn das Gleichgewicht gestört ist, drängt die Dynamik die Kinder dazu, es wiederherzustellen.
Die Faustregel lautet: Wenn ein Kind für einen Elternteil wichtiger ist als der eigene Partner, entsteht die Gefahr sexuellen Missbrauchs, der darin besteht, dass der Vater oder die Mutter das Kind für seine eigenen Bedürfnisse benützen. Ein derartiges Verhalten kehrt die natürlichen Verhältnisse um. Die Eltern sind dazu da, den Kindern Zeit und Aufmerksamkeit zu schenken und ihnen Orientierungen zu vermitteln, nicht, um sie zur Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse zu benützen, denn benützen bedeutet soviel wie missbrauchen.“

Aus Epilog „Nach Hause, Elliott, nach Hause!“ auf Seite 381: „Wie sehr wir uns auch anstrengen, um das Kind in uns zurückzugewinnen und zu beschützen, es bleibt trotzdem in jedem von uns eine gewisse Leere. Ich nenne das den „metaphysischen Blues“. Es ist natürlich ein freudiges Ereignis, wenn wir das Kind in uns zurückgewinnen und in unsere Obhut nehmen. Für viele von uns ist es ein Gefühl, als ob sie zum erstenmal wirklich nach Hause kämen. Aber auch wenn wir uns sicher fühlen und einander verbunden sind, haben wir alle doch noch eine Reise durch die Finsternis vor uns. Und so erschreckend das auch sein mag, es sehnt sich trotzdem jeder von uns tief in seinem Innersten danach. Denn gleichgültig, welche Träume in Erfüllung gehen, immer erleben wir auch so etwas wie eine kleine Enttäuschung, wenn wir an einem dieser Ziele angelangt sind. Dann sagen wir mit Dante, Shakespeare und Mozart: War das alles?
Ich glaube, dass dieses Gefühl der Enttäuschung dadurch entsteht, dass wir alle noch ein anderes Zuhause haben, wo wir wirklich hingehören. Ich glaube daran, dass wir alle aus der Tiefe des Seins kommen und dass dieses Sein uns wieder zurückruft. Ich glaube, dass wir von Gott kommen und dass wir Gottes Geschöpfe sind. Gleichgültig, wie gut es uns geht, wir sind nie wirklich zu Hause. Augustinus, auch ein verletztes Kind, hat das schön ausgedrückt: „Du hast uns für Dich selbst erschaffen, O Herr, und unsere unruhigen Herzen finden erst Frieden, wenn sie in Dir ruhen.“ Das wird dann endlich unsere wahre Heimkehr sein.“


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1 Comments:

Anonymous Anonym said...

Ab ins Lesezeichen mit diesem Blogeintrag... =) Grüße von http://narbenschriften.blogspot.de/

Samstag, 6. Oktober 2012 um 04:55:00 GMT-7  

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