Mittwoch, August 23, 2006

Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz

Dieser aussergewöhnliche Titel ist ein Buchtitel von René Girard. Eigentlich ist es ein Zitat von Jesus aus dem Lukasevangelium 10,18, das er zu den 72 Jüngern sprach, die voll Freude zu ihm zurückgekehrt waren und über den Gehorsam der Dämonen berichtetet hatten. Der letzte Satz von Jesus in diesem Zusammenhang: "Freut euch, dass eure Namen im Himmel verzeichnet sind" ist geläufiger.
Warum beginnt ein Buchautor mit einem solchen Satz? Worum geht es in diesem Werk?
Der Untertitel: "Eine kritische Apologie des Christentums" gibt eine erste Antwort. Die Originalausgabe schrieb Girard, ein Kulturantrophologe, in Französisch: "Je vois Satan tomber comme l'éclair" und erschien 1999 in Paris bei Ed. Grasset & Fasquelle. Die deutsche Uebersetzung kam 2002 bei Carl Hanser Verlag in München heraus (ISBN-Nummer: 3-446-20230-7).
Noch etwas zum Autor: René Girard wurde 1923 in Avignon geboren. Er lehrte lange Zeit an der renommierten Stanford University in Kalifornien. Bekannt wurde Girard durch sein Werk "Das Heilige und die Gewalt", das 1972 in Französisch und 1987 in Deutsch erschien. Dadurch beeinflusste er Religionsgeschichte und Kulturantropologie stark. Er starb im Jahr 2005. Mehr zu René Girard ist im Internetlexikon "wikipedia" zu finden.

Zu diesem Werk: Girard verteidigt in seinem Werk das Christentum als Programm zur Ueberwindung der Gewalt. Wie kommt er dazu? Er vergleicht die alten Mythen mit den Evangelien und stösst auf einen diametralen Gegensatz bezüglich Gewalt: In den Mythen wird sie eher zufällig, sicher nicht offensichtlich dargestellt und somit verschleiert und geleugnet. In den Evangelien wird nichts versteckt, die schreckliche Gewalt wird freigelegt und dadurch kritisierbar.
Girard entfaltet nachvollziehbar eine Theorie der Gewalt. Sein zentraler Begriff ist "Mimesis", was Nachahmung bedeutet. Der Mensch imitiert, ahmt sehr viele Dinge nach, gerade auch Gewalttätigkeit. Und das ist laut Girard das Wesen Satans: Die Nachahmung und die darauffolgende Eskalation der Gewalt. Das drückt sich konkret in der Strategie des unschuldigen Opfers, des Sündenbocks, aus, der von einer Gruppe einmütig, aber zu Unrecht verurteilt und ermordet wird. Die Mythen erzählen zwar davon, jedoch immer verschleiernd. Erst die Evangelien decken Satans Strategien wirklich auf und zeigen durch Jesu Menschwerdung, Leiden, Tod und Auferstehung eine völlige Ueberwindung der Gewalt auf. Um zu verstehen, wie Girard sein Thema entfaltet, formuliert und argumentiert, dienen nachfolgend einige wichtige Textpassagen aus seinem Buch:

S. 16: "Die mythischen Erzählungen stellen die Opfer der Kollektivgewalt als schuldig dar. Sie sind schlicht falsch, illusorisch und lügnerisch. Die alt- und neutestamentlichen Berichte stellen dieselben Opfer als unschuldig dar. Sie sind per se exakt, vertrauenswürdig, wahrhaftig."

S. 18: "Der vorliegende Essay ist letztlich das, was man einst eine Apologie des Christentums nannte... Wenn das Kreuz alle Mythologie effizienter entmystifiziert als Bultmanns Automobile und Elektrizität, wenn es uns jener Illusionen beraubt, die sich in unseren Philosophien und unseren Sozialwissenschaften endlos fortschreiben, dann können wir nicht ohne es auskommen. Weit davon entfernt, jemals altmodisch und überholt u sein, ist die Religion des Kreuzes als Ganzes mehr denn je jene Perle, deren Erwerb den Verkauf all unseren Besitzes lohnt."

S. 139: "Der mimetische Zyklus findet sich nur teilweise in den alttestamentlichen Erzählungen. Die mimetische Krise und der Kollektivmord am Opfer sind vorhanden, doch das dritte Moment des Zyklus fehlt: die religiöse Epiphanie, die Auferstehung, welche die Göttlichkeit des Opfers offenbart. ... In ihr gibt es für die Opfer offensichtlich niemals eine Auferstehung: Dort gibt es weder einen zum Opfer gemachten Gott noch ein zur Gottheit erhobenes Opfer."

S. 156: "In den Evangelien hingegen finden sich nicht bloss die beiden ersten Momente des mimetischen Zyklus, sondern das dritte, von der hebräischen Bibel spektakulär verworfene Moment. ... Seit dem Menschheitsursprung wurzelten vermutlich alle Götter im Opfermechanismus. Das Judentum besiegte diese tausendköpfige Hydra."

S. 158: "In unserer antropologischen Perspektive hingegen stellen wir fest, dass die Evangelien die wesentliche Leistung der hebräischen Bibel bestehen lassen: Das Verhältnis zwischen Opfern und Verfolgern ist vollkommen anders als in den Mythen, vorherrschend ist das biblische Verhältnis, das wir soeben in der Josephsgeschichte entdeckt haben. Wie die hebräische Bibel rehabilitieren die Evangelien die kollektiven Opfer und klagen deren Verfolger an. Jesus ist unschuldig, schuldig sind jene, die ihn kreuzigen lassen. Johannes der Täufer ist unschuldig, schuldig sind jene, die ihn enthaupten lassen."

S. 187: "Bis zur Auferstehung deutete gar nichts auf das Umschlagen eines mimetischen Furors, dem die Jünger selbst bereits mehr oder weniger erlegen waren. Die Herrscher dieser Welt konnten sich die Hände reiben, doch letztlich ging ihr Kalkül nicht auf. Statt einmal mehr das Geheimnis des Opfermechanismus zu vertuschen, verbreiteten es die vier Passionsberichte über die ganze Erde und verhalfen ihm zu enormer Publizität."

S. 193: "Die biblische und christliche Befähigung, Opferphänomene zu verstehen, schimmert in der modernen Bedeutung bestimmter Ausdrücke wie etwa "Sündenbock" durch."

S. 200: " Der Ausdruck Sündenbock bezeichnet also
1. das im Leviticus beschriebene rituelle Opfer
2. alle Opfer analoger Riten, wie sie in archaischen Gesellschaften existieren, auch Ausstossungsriten
3. alle nicht ritualisierten kollektiven Uebertragungsphänomene, die wir rund um uns beobachten oder zu beobachten glauben."

S. 236: "Parakletos" bedeutet ursprünglich Anwalt am Gericht, Verteidiger der Angeklagten ... Es gilt, den Gedanken, dass der Heilige Geist die Verfolger über ihre eigenen Verfolgungen aufklärt, wörtlich zu nehmen. Der Heilige Geist offenbart den Individuen die buchstäbliche Wahrheit dessen, was Jesus am Kreuz gesagt hat: Sie wissen nicht, was sie tun. Es gilt, auch an den Gott zu denken, den Hiob "meinen Verteidiger" nennt.
Die Entstehung des Christentums ist der Sieg des Parakleten über sein Gegenüber, Satan, dessen Name ursprünglich der Ankläger vor Gericht bedeutet, denjenigen, der mit der Aufgabe beauftragt ist, die Schuld der Angeklagten zu beweisen. Das ist einer der Gründe, weshalb die Evangelien aus Satan den für jede Mythologie Verantwortlichen machen."

S. 238: "Die Auferstehung lässt Petrus und Paulus und nach ihnen alle Gläubigen begreifen, dass jedes Gefangensein in der sakralisierten Gewalt Gewalt gegen Christus ist. Der ist niemals das Opfer Gottes, Gott ist stets das Opfer des Menschen."

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