Spielen oder Sein?
Früher gab es in Mehrfamilienhäuser nur eine einzige Toilette draussen im Treppenhaus. An einem Samstagnachmittag beschloss ein kleiner Junge, er sei jetzt gross genug, um die Toilette alleine, ohne fremde Hilfe, zu benutzen. Er ging die Treppe hinauf, verriegelte hinter sich die Tür und kam sich für die nächsten Momente sehr erwachsen vor.
Dann wollte er wieder hinaus. Aber er bekam die Türe nicht mehr auf. Er versuchte mit ganzer Kraft, trotzdem schaffte er es nicht, den Schlüssel zurückzudrehen. Er geriet in Panik und dachte: „Ich muss den Rest meines Lebens in dieser Toilette verbringen!“ Und er fühlte sich plötzlich wieder wie ein kleiner Junge.
Die Eltern, Geschwister und Nachbarn hörten sein verzweifeltes Schreien. „Was ist los?“ rief die Mutter durch die Türe, die sich weder von innen noch von aussen wieder öffnen liess. „Bist du umgefallen? Hast du dir den Kopf angeschlagen?“
„Ich krieg die Tür nicht mehr auf!“ brüllte er.
Der Vater war bereits zur Garage gerannt, riss die Leiter runter, lehnte sie an die Hauswand genau unter dem Toilettenfenster. Er stieg hoch, stiess das Fenster auf und kletterte in die Toilette, in das Gefängnis des Jungen. Er ging an dem Jungen vorbei, drehte den Schlüssel zurück und machte die Türe auf. „Danke!“, sagte der Junge und lief zum Spielen davon.
So ähnlich funktioniert auch das Leben als Christ, denken wir oft. Wenn ich irgendwo feststecke, versuche ich erst einmal, mich selber zu befreien. Wenn das nicht geht, rufe ich Gott im Gebet um Hilfe. Gott hört dann mein Geschrei: „Hol mich hier raus, ich will wieder spielen!“ Er kommt und öffnet die Türe.
Manchmal tut er das tatsächlich. Aber jetzt, wo wir nicht mehr jung, sondern älter geworden sind, erkennen wir, dass Glaube nicht mehr ganz so funktioniert. Und wir fragen uns: Sind wir mit Gott zufrieden, lieben wir ihn noch, auch wenn er die Türe nicht aufschliesst? Wenn eine Ehe nicht wiederhergestellt wird? Wenn Kinder nicht aufhören zu rebellieren? Wenn gute Freunde uns im Stich lassen? Wenn finanzielle Sorgen drücken? Wenn der Gesundheitszustand trotz unseres Betens sich verschlechtert? Wenn die Einsamkeit oder eine Depression nicht enden will? Wenn eine gute Arbeit aufgegeben werden muss?
Lieben wir Gott auch noch, wenn er zwar durch das kleine Fenster in unsere düstere Kammer klettert, aber dann nicht vorbeigeht, um den Schlüssel zu drehen? Stattdessen hockt er sich zu uns auf den Boden und sagt: „Komm, setz dich zu mir!“
Es scheint, dass er der Meinung ist, dass es für uns wichtiger sei, zu uns zu kommen und bei uns zu sein, statt uns schnell zum Spielen rauszulassen. Oft sehen wir das nicht so wie er. „Hol uns hier raus!“ jammern wir. „Wenn du uns lieb hast, schliesst du endlich die Türe auf!“
Hier liegt viel an uns. Wir können Gott entweder weiter bitten, uns zu geben, wovon wir Glück und Erfüllung erhoffen – raus aus dem dunklen Raum, hin zum Spielplatz. Oder wir nehmen seine Einladung an und setzen uns zu ihm. Wir sind zwar noch im Dunklen, aber wir erhalten die Gelegenheit, ihn besser kennenzulernen. Es wird eine Zeit kommen, wo wir für immer „spielen“ dürfen, weil wir ganz bei ihm zu Hause sind.
Grundlage ist eine Geschichte von Lawrence Crabb. Buchempfehlung: Lawrence J. Crabb: Christsein ohne Krampf. Brunnnen Basel 2004
Labels: Begegnung, beten, Beziehung, Christentum, Erzählung, Gebet, Gegenwart, Gott, Psychologie, Ruhe, Sein
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