Johannes Bartels: Mitten in die Seele hinein
Bartels beginnt mit einer Definition und der Herkunft des Enneagramms: es ist eine geometrische Figur mit neun Ecken, die sich aus einem regelmässsigen Dreieck, einem unregelmässigen Sechseck und einem Kreis zusammensetzt. Die möglichen Interpretationen sind sehr verschieden, sie gehen von Kosmologie, Charaktertypologie bis zu Entwicklungsprozessen. Nach seiner Auffassung, die ich teile, liegen seine Ursprünge trotz anderweitiger Behauptungen weiterhin im Dunkeln: als mögliche Entdecker und Entwickler kommen folgende Gruppierungen in Frage:
- die Chaldäer („die Weisen aus dem Morgenland“)
- die Griechen (im speziellen: Homer und Pythagoras)
- die frühchristlichen Wüstenväter (im speziellen: Evagrius Ponticus, 345-399 nChr, der der Begründer der acht Hauptsünden ist, die die Ostkirche kanonisiert hatte. Die Westkirche anerkannte unter Cassianus und Gregor I nur sieben Todsünden)
- die Sufis (islamische Mystiker, in Samarkand, im 15. Jahrhundert)
Wahrscheinlich ist, dass alle obgenannten Gruppen intuitiv mit der Neunerfigur oder enneagrammähnlichen Vorläufern zu tun hatten. In moderner Zeit spielt Georg Iwanowitshc Gurdjieff, geboren 1866, eine wesentliche Vorläuferrolle. In Zentralasien hat er eine Lehre, die dem Enneagramm nahe kommt, aufgeschnappt und instinktiv, aber nicht systematisch, an seine Schülern weitergegeben. Einer seiner Weggefährten war Piotr Demianowitsch Ouspensky 1878-1947. Mehr zu Gurdjieff ist dem Buch von James Moore: Georg J. Gurdjieff – Magier, Mystiker, Menschenfänger zu entnehmen (oder heute findet man vieles unter: www.wikipedia.org).
Als eigentlicher Erfinder des heutigen Enneagramms kann Oscar Ichazo, geboren 1931 in Bolivien, bezeichnet werden. Er deutete die Figur ab 1952 in Richtung einer Charaktertypologie oder besser ausgedrückt als Persönlichkeitsmuster: jeder Mensch leide an einer Ego-Fixierung, an einem Mangel an essentieller Qualität. Dieser Mangel, diese Ego-Fixierung zeige sich in den neun Formen der Trägheit, Zorns, Stolzs, Lüge, Neids, Geizes, Angst, Völlerei und der Wollust.
Claudio Naranjo, auch er ein Südamerikaner und Schüler von Ichazo, trug diese neuen Ideen 1972 in die USA. Dort waren die Psychologin Helen Palmer und der Jesuit Robert Ochs erste begierige Schüler. Palmer begründete danach die mündliche Tradition in Berkeley, Ochs verbreitete das Enneagramm unter Jesuiten an der Loyola-Universität in Chicago.
1984 gaben Patrick O’Leary, Maria Beesing und Robert Nogosek ein erstes gut verständliches Buch heraus. Die Theorien der Triaden und Reaktionszentren (Instinkt/Leibmitte: Hier bin ich, nimm mich! Gefühlszentrum/Herz: Magst du mich? Denkzentrum/Kopf: Wie hängt das alles zusammen?) wurden erstmals schriftlich fixiert. Ein aussergewöhnlicher Literatur-Boom in der westlichen Welt begann, das Enneagramm emanzipierte sich von den Exertitien- und Einkehrhäuser und verlor zunehmend den Nimbus einer Geheimlehre. Das jesuitische Konzept war stark geprägt von der Erlösung durch Gott, von der Hilfe durch andere Menschen und von der Arbeit an sich selbst. Jesus Christus wird dadurch mehr zum Vorbild, zum Ideal, zum Imperativ, zur „Christusikone“ als zum bedingungslosen, sich ganz herablassenden Erlöser. Weitere bekannte Exponenten dieser Schule sind Metz/Burchill und Suzanne Zuercher.
Labels: Charakter, Enneagramm, Figur, Geschichte, Jesus Christus, Modell, Orient, Persönlichkeit, Religion, Seele, Theologie
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