Erik Händeler: Die Geschichte der Zukunft
Der Journalist Erik Händeler hat ein beachtenswertes Buch zu Gesellschaft und Wirtschaft der jüngeren Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geschrieben. Der Titel lautet: Die Geschichte der Zukunft. Untertitel: Sozialverhalten heute und der Wohlstand von morgen. Kondratieffs Globalsicht. Es ist im Verlag Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers, im Jahr 2003 erschienen (ISBN: 3-87067-963-8).
Erik Händeler, Jahrgang 1969, ist verheiratet, hat eine Tochter, studierte Wirtschaftspolitik und Volkswirtschaft. 1997 wurde er freier Journalist, um die Kondratiefftheorie und deren politische Konsequenzen in die öffentliche Debatte zu bringen.
Was bedeuten „Kondratiefftheorie“ und „Kondratieffs Globalsicht“? Das führt uns auf Nikolai Kondratieff zurück, der 1892 in Russland geboren wurde und ein bedeutender Oekonom war. Nach seinem Studium in St. Petersburg arbeitete er als Direktor für Statistik und Wirtschaft. Er hatte sich an der Februarrevolution 1917 beteiligt, die die Absetzung des Zaren bewirkte. Unter der neuen Regierung war er Vize-Ernährungsminister. Nach der Machtübernahme der Bolschewiken, der Kommunisten unter Lenin, gründete er 1920 in Moskau ein Konjunkturinstitut. Bereits 1928 wurde sein Institut geschlossen, weil unter Stalin nur noch Planwirtschaft zählte. 1930 wurde er verhaftet und kam in einen Gulag, wo er 1938 zum Tode verurteilt und erschossen wurde.
Sein umfangreiches Gesamtwerk wurde aus ideologischen Gründen wenig beachtet. Der amerikanische Oekonom Joseph Schumpeter bezeichnete 1936 die langen Konjunkturzyklen als Kondratieff-Wellen. (Schumpeter verlor aber im Wettbewerb der Modelle gegen den Engländer Keynes, so dass Kondratieff und seine Erkenntnisse bald in Vergessenheit gerieten.)
Als Eingangswort zu seinem 463 seitigen Werk bringt Händeler den folgenreichen Satz von Max Planck an: „Eine wissenschaftliche Erkenntnis setzt sich nicht deshalb durch, weil die Vertreter des alten Systems überzeugt wurden, sondern weil sie aussterben und eine neue Generation an ihre Stelle tritt, die mit den neuen Gedanken aufgewachsen ist.“
Händeler beginnt mit der gegenwärtigen Krise (in Deutschland) und behauptet, dass erst eine neue Kultur der Zusammenarbeit in der Informationsgesellschaft den Wohlstand wieder steigen lassen wird. Dann beschreibt er nachvollziehbar wichtige Meilensteine der Wirtschaftsgeschichte der letzten 240 Jahre, um seine These zu belegen. Dabei zeigt er auf, dass sich Gesellschaft und Wirtschaft seither in grossen Wellenbewegungen von 40 bis 60 Jahren weiterentwickelt haben, indem vorhandene Grenzen und Engpässe überwunden wurden. Engpässe führten zur Verknappung eines wichtigen Guts, dadurch wurden Organisationen gebremst, weniger produktiv und blockiert. Daraufhin verloren Menschen ihren Erwerb und verarmten. Erst ein solcher Notstand und Leidensdruck führte zu intensivem Hinterfragen, Forschen und Entwickeln auf dem "kritischen" Teilgebiet und Innovationen, Erfindungen und neue Techniken entstanden nach und nach: Ab 1769 trieb die Dampfkraft anstelle des Menschen die Spinnräder an und leistete damit bis zu 200-mal mehr mechanische Energie! Textilien wurden somit viel billiger und mehr Menschen konnten sich diese leisten. Ab 1820 wurde der aufwändige Transport mit Kutschen zu einem grossen Problem und schränkte die gesamte Produktivität ein, worauf Stagnation, Rückgang und grosse Arbeitslosigkeit folgte. Erst als die Eisenbahn gebaut werden konnte und die Transportkosten dadurch billiger wurden, setzte ein erneuter Aufschwung mit teilweise ganz neuen Arbeitsplätzen ein.
Da Händeler viele Problemstellungen sehr treffend erfasst und meistens auch prägnant formuliert hat, möchte ich ihn selber zu Wort kommen lassen. Zur Situation der Gegenwart schreibt er auf Seite 12: „Und das ist die gute Nachricht: Die Entwicklung des Computers ist nicht das Ende der Entwicklung der Menschheit. Auch heute gibt es knappe Produktionsfaktoren, die sich nicht einfach von heute auf morgen vermehren lassen und der Wirtschaft weltweit den Atem abdrücken: die computerisierte Gesellschaft hat aus eine ökonomischen Notwendigkeit heraus flachere Strukturen in der Arbeitswelt geschaffen. Doch die Menschen, die in der Blütezeit der Industriegesellschaft gross geworden sind, haben nicht gelernt, partnerschaftlich, sachlich und zielorientiert so zusammenzuarbeiten, zuzuhören oder sich gegenseitig so zu fördern, dass Probleme zu angemessenen Kosten gelöst werden können. Umgang und Lebensstil machen die Menschen so krank, dass sie mit den bisherigen Mitteln nicht wirksam genug geheilt werden. Erst wenn wir ein produktiveres Gesundheitssystem aufgebaut und unsere Kultur der Zusammenarbeit den neuen wirtschaftlichen Anforderungen angepasst haben, werden wir die ökonomischen Probleme bewältigen (Arbeitslosigkeit, Bildung, Rente, Krankheitskosten, Steuerausfälle – denn diese Probleme gehören alle zusammen). Wir sind der Krise daher nicht ohnmächtig ausgeliefert. Wir haben die Wahl.“
Seite 14 und 15: „Denn das ist das Besondere an der Kondratiefftheorie: Wirtschaft ist nicht nur ein ökonomischer, sondern ein gesamtgesellschaftlicher Vorgang. Wenn eine grundlegende Erfindung die Wirtschaft über viele Jahre hinweg antreibt, dann berührt sie alle Bereiche des Lebens. Denn es gibt neue Spielregeln und Erfolgsmuster dafür, wie man Wohlstand schafft; die neue grundlegende Erfindung verändert die Art, wie sich eine Gesellschaft organisiert – schliesslich wollen die Menschen die neue Basisinnovation optimal nutzen...
Das macht die Kondratiefftheorie im Gegensatz zu den mechanistisch-monetären Denkmo-
dellen der etablierten Wirtschaftswissenschaft so brisant: Wie stark oder schwach die Wirtschaft eines Landes prosperiert, entscheidet sich demnach an der Frage, wie sehr seine Bewohner die neuen technischen, aber eben auch sozialen, institutionellen und geistigen Erfolgsmuster verwirklichen.“
Seite 24 bis 28: „Die Informationsgesellschaft ist weit mehr als eine Fortsetzung der alten Industriegesellschaft mit Computern. ... In einer Welt, die ihre Wissensmenge alle fünf Jahre verdoppelt, geht es nicht mehr in erster Linie um ein Mehr an Information, sondern darum, sie effizient zu verwalten, um schnell an jene Infos zu kommen, die man braucht, um ein aktuelles Problem zu lösen. Nur dort, wo Menschen Informationen sammeln, recherchieren, aufbereiten, präsentieren, vermitteln, nur noch dort entstehen neue Arbeitsplätze: der quartäre Arbeitsmarktsektor nach Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistung.“
Wettbewerb findet nicht mehr vor allem über den Preis, sondern über Qualität und Zeitvorsprung, also über den Umgang mit Information, statt. Produktlebenszyklen haben sich dramatisch verkürzt. Geld verdient häufig nur noch, wer als Erster auf den Markt kommt... Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung hängen erstmals vom effizienten Umgang mit Information ab: von Informationsflüssen zwischen Menschen und im Menschen, von Fortschritten im Menschlichen. Firmen, in denen derjenige als starker Mitarbeiter gilt, der sich auf Kosten anderer profiliert, werden am Markt nicht bestehen. Wo Informationsflüsse gestört sind – wo Platzhirsche regieren, Meinungsverschiedenheiten zu Machtkämpfen ausarten, wo Mobbing das Klima bestimmt – stagniert die Produktivität...
Der einzige Standortfaktor, durch den sich die Regionen der Welt künftig noch voneinander unterscheiden, ist die Fähigkeit der Menschen vor Ort, mit Information umzugehen.
Und das ist nicht nur eine intellektuelle, sondern eine soziale Fähigkeit; hier geht es um die Frage, wie gehe ich mit mir selbst und anderen um. In den Kulturen wird sie beantwortet durch die vorherrschende religiöse Ethik und das letzte Ziel, das sie dem Leben setzt...
Die Art, wie Menschen miteinander umgehen, wie sie sich organisieren, das wird zum Kernproblem wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit in der Informationsgesellschaft.
Wir stehen daher als ganze Gesellschaft vor der immer drängender werdenden Aufgabe, Innenwelt-Probleme zu verringern...
Da rücken ausgerechnet die veränderten ökonomischen Anforderungen religiöse Fragen wieder in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Debatten:
· Wie sollen wir uns in der Firma verhalten?
· Was ist seelische Gesundheit?
· Wie finde ich wieder zu meiner Ausgeglichenheit zurück (früher nannte man das „Frieden“)?
Die Themen, die jetzt aufbrechen, gehören zum Erfahrungsschatz der christlichen Kirchen... Die Wirtschaft benötigt ... den verantwortlichen und kooperativen Informationsarbeiter, der ein neues gruppenübergreifendes Zusammenleben verwirklicht.“
Labels: Christentum, Computer, Geschichte, Gesellschaft, Gesundheit, Information, Kultur, Management, Menschenbild, Politik, Sozialverhalten, Technik, Wirtschaft, Wissenschaft, Wohlstand
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