Dienstag, Februar 01, 2011

Vom Gewissen in der deutschen Geschichte und Kultur


Paulus hat den griechischen Begriff des Gewissens in die christliche Theologie eingeführt. Aber erst Origenes setzt das Gewissen mit dem Geist gleich, der im Menschen wohnt nach 1Ko 2,11. Dabei war er vom griechischen Menschenbild geprägt, das den Gegensatz von Materie und Geist betont hatte.

Erstaunlicherweise sprach der deutsche Reformator Luther dem Gewissen kaum einen Eigenwert zu, weil der Mensch nach ihm keine Verfügungsgewalt über sich selbst hat. Nur die Rechtfertigung Gottes durch die Erlösungstat von Christus macht aus dem angefochtenen, verzagten, erschrockenen und schuldigen Gewissen ein getröstetes, stilles, mutiges und friedsames! Die Orientierung am Evangelium befreie das Gewissen, und der so befreite Mensch sei frei zum sittlichen Handeln.

Seit gut hundert Jahren werden im deutschen Sprachraum zwar die Phänomene des Gewissens noch anerkannt und gewürdigt, aber deren sittlicher Wert ist umstritten geworden, weil eine objektive, ethische Instanz angezweifelt wird. Es gibt seither verschiedene, teilweise gegensätzliche Gewissensmodelle, weil Philosophen und Ideologen das grundlegende jüdisch-christliche Menschenbild und die damit tradierten Werte in Frage gestellt oder abgelehnt haben.
Besonders seit Nietzsche und seinem Nihilismus nahmen Wertlosigkeit, Leere und Fraglichkeit zu: Eine Wahrheit kann es nicht geben, Gewissheit und gesichertes Wissen kaum mehr. Dieser Skeptizismus entwurzelte die Menschen zunehmend, liess alles in der Schwebe und entzog auch dem Gewissen seine Basis.
Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg mit den unsäglichen Gräueltaten der Nazis gab es auch keinen Konsens mehr darüber, was mit dem Gewissen genau gemeint sein könnte. Und der Prozess gegen den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem hat diesen Dissens noch weiter verschärft. Hannah Arendt hat in ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem“ 1964 aufgezeigt, dass Eichmann nicht einfach als gewissenloser Scherge bezeichnet werden kann, sondern eher als „pflichtbewusste“ Person, deren Gewissen aber fehl- oder irregeleitet war und dadurch unbrauchbar wurde. Der Philosoph Paul Dauner bezeichnet diese Zeit als Zeit des „Gewissenskollaps“. Diese Zäsur, die weitere Entwicklung und die Fortschritte in Wissenschaften und Medizin führten zur Individualisierung und Abwertung des traditionellen Gewissens als naturrechtliche Ordnung oder Stimme Gottes. Dabei entstand ein Vakuum, durch abnehmende Innensteuerung des Einzelnen gefördert, wird es nun zunehmend gefüllt von staatlicher, gesellschaftlicher und medialer Aussensteuerung mit neuen Werten und andern Zwängen. Auch die Geisteswissenschaften wollen den für sie widersprüchlichen Gewissensbegriff nicht mehr gebrauchen im Zeitalter der Spätmoderne, Säkularismus und Pluralismus. Denn es gibt auch für sie keine objektive Wahrheit und wirkliche Güte mehr, die massgebliche Wertsphäre fehlt und Verortung und Sinngebung des Gewissens sind somit entschwunden. Wir sind fast unmerklich in eine „Kultur des Nichtwissens“ geraten, die wir irgendwie selber ertragen und bewältigen müssen. Als Ersatz steht der Begriff „Verantwortung“ im Vordergrund, der mehr das äussere Tun als die innere Gesinnung gewichtet.
Im alltäglichen Sprachgebrauch ist weiter von „Gewissen“ als einer sittlichen Instanz die Rede, die aber sehr subjektiv sein kann. Dietrich Rüdiger unterscheidet heute noch vier Hauptrichtungen in der Gewissenstheorie, die sich aber nicht mehr so leicht zusammenführen lassen:
· "vox-dei"-Gewissen (Theologie)
· Regelgewissen (Soziologie)
· Vernunftgewissen (Pflichtethik)
· Schuldgewissen (Psychologie)

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