Sonntag, September 11, 2016

Eine kurze Geschichte der Resilienz

Ein neuer Begriff macht die Runde: „Resilienz“. Es ist noch kein einheitlich gebrauchter Begriff, sondern er hat viel mit Salutogenese (Gesundheit), Hardiness (Widerstandsfähigkeit), Coping (Bewältigungsstrategie) und Autopoiesis (Selbsterhaltung) zu tun. Resilienz war ursprünglich in der Technik gebräuchlich und bedeutet dort Flexibilität und Elastizität eines Materials. Er stammt vom lateinischen Wort „resilire“, was mit abprallen und zurückspringen übersetzt werden kann. Um menschliche Resilienz besser verstehen zu können, werden auch drei Metaphern verwendet: • Gewicht, das die zunehmende Tragfähigkeit anzeigt • Behälter/Volumen, der die steigende Aufnahmefähigkeit andeutet • Netz, das die zunehmende Reissfestigkeit infolge guter Verteilung bedeutet
Der Basler Psychiater Samuel Pfeifer hat Resilienz verwendet für psychische Widerstandskraft ohne zu verhärten (erstmals in der Zeitschrift „diakonie“ April 2008). Trotz schwerer Bedingungen haben gewisse Personen - etwa ein Drittel der Menschen - eine gesunde Mischung an Gelassenheit, Leichtigkeit, Zielorientierung, Disziplin und Konsequenz zugleich entwickelt. Unter Belastung können sie flexibel Denken, Bedürfnisse aufschieben, Ressourcen einteilen und haben dadurch psychische Gesundheit und Stärke gewonnen. Dahinter steckt ein „Lebensskript“, eine positiv-realistische Sichtweise, ein antineurotisches Verhalten, eine Problemlösungsorientierung und Selbstwirksamkeit. Solches Agieren ist in einer zunehmend narzisstischen westlichen Welt, die eher Vulnerabilität - Verletztlichkeit durch äussere Einflüsse - und psychische Erkrankungen begünstigt, von grossem Vorteil. In den Fünfzigerjahren hat Jack Block (1924-2010) den Begriff in die Psychologie eingeführt. Der amerikanische Soziologe und Psychologe Glen Elder (* 1934) hat 1961 herausgefunden, dass viele arme Kinder in den USA der Dreissigerjahren sich zu erfolgreichen Menschen entwickelt haben, weil sie zu Akteuren des eigenen Lebens wurden. Doch erst die amerikanische Psychologinnen Emmy Werner (* 1929) und Ruth Smith haben durch eine pionierhafte Studie an 698 Kinder auf Hawaii, die 1955 geboren wurden und unter erschwerten Bedingungen aufgewachsen waren, dem Resilienzbegriff 1971 zum Durchbruch verholfen. 1977 erschien ihr Buch „The children of Kauai“, worin sie den Schluss zogen, dass etwa ein Drittel dieser Kinder lebenstüchtige Erwachsene wurden und dass Resilienz erworben wird und erlernbar sei. Die Studie dauerte bis 1995, die 698 Personen wurden also 40 Jahre lang beobachtet. In den Achtzigerjahren ging der israelische Soziologe Dr. Aaron Antonovsky der Frage nach, was Menschen gesund hält (und nicht was sie krank macht) und begründete damit die „Salutogenese“. Er stellte in seinen Forschungen fest, dass erstaunlich viele Frauen, die den Holocaust überlebt hatten, auch die Menopause gut meisterten. Diesen Zusammenhang nannte er „Kohärenz“, genauer ist es: • die Fähigkeit, die Zusammenhänge des Lebens zu verstehen • die Überzeugung, das eigene Leben gestalten zu können • der Glaube, dass das Leben einen Sinn hat. Er hat 1987 zehn Faktoren bestimmt, die Menschen in schwierigen Lebensumständen schützen und ihnen zu Widerstandskraft verhelfen: 1. Stabile emotionale Beziehung zu einem Elternteil oder Bezugsperson 2. Soziale Unterstützung innerhalb und ausserhalb der Familie (Nachbarn, Lehrer oder Gleichaltrige) 3. Emotional warmes, offenes, strukturierendes und Norm orientiertes Erziehungsklima 4. Soziale Modelle, die zu konstruktiver Lebensbewältigung ermutigen (Elternhaus, Schule, Kirchgemeinde, Jugendgruppe, etc.) 5. Soziale Verantwortlichkeit (z.B. Sorge für Verwandte oder Freunde) und Leistungsanforderungen (z.B. Pflichten in Familie, Schule oder Arbeitsplatz) 6. Kognitive Kompetenzen wie Kommunikationsfähigkeit, durchschnittliche Intelligenz und realistische Zukunftsplanung 7. Temperamentseigenschaften, die effektive Problembewältigung begünstigen wie Flexibilität, Annäherungsverhalten und Impulskontrolle 8. Erfahrungen von Selbstwirksamkeit, Überzeugungen, Selbstvertrauen und positives Selbstbild 9. Aktive Lösungssuche bei Problemen 10. Glaube: Erfahrung von Sinn, Struktur und Bedeutung in der eigenen Entwicklung. Der deutsche Psychologe und Psychiater Manfred Spitzer (* 1958), der 2012 das Buch „Digitale Demenz“ geschrieben hat, zeigt darin sehr eindrücklich und nachvollziehbar auf, dass die Gehirnbildung über die ganze Lebenszeit hinweg erfolgt. Er spricht dabei nicht von Resilienz, aber er zielt in die gleiche Richtung. Bei allen Menschen gibt es einen Aufstieg und einen Abstieg im Lauf des Lebens. Positive Faktoren wie Bildung (Zweisprachigkeit, Musik, Sport, Theater), Bewegung („die Welt mit Händen begreifen“), gesunde Ernährung, Geborgenheit und Gemeinschaft (Bindung, Familie und sinnvolle Arbeit), aktives Teilnehmen und Geben und Helfen (Enkelkinder, Ehrenamt, Freunde) fördern den Aufstieg und stärken die Gehirnbildung bis ins hohe Alter hinein. Er konnte feststellen, dass Zweisprachigkeit, Alzheimerkrankheiten um mindestens fünf Jahre hinauszögern. Dagegen führen Fernsehkonsum, Computerspiele, dauernd Online sein, Stress und Multitasking vermehrt und schneller zu Sprachentwicklungsstörungen, Aufmerksamkeitsstörungen, Schulproblemen, geringer Bildung, falscher Ernährung, Sucht, Schlafmangel, Übergewicht, Arbeitslosigkeit, Krankheit, sozialem Abstieg, Vereinsamung, Depression und Demenz. Spitzer betont stark und zu Recht, dass wir (westlichen) Menschen für die Gestaltung und Formbarkeit unseres Lebens weitgehend selbst verantwortlich seien. Zusätzlich ist aber auch anzumerken, dass ein Spannungsfeld zwischen eigener Handlungsfähigkeit und vorgegebenen Rahmenbedingungen besteht, mit dem konstruktiv, kreativ und intelligent umgegangen werden will. Als hilfreiches Modell könnte hier das Wertequadrat mit den Begriffen „freier Wille“ – „Vorsehung“ und (im Negativen) Machbarkeitswahn – Fatalismus dienen. Wer dem Machbarkeitswahn zuneigt, dem hilft die Realität der Vorsehung zu akzeptieren und in sein Leben zu integrieren. Die Erforschung und die Entwicklung des Begriffs der Resilienz ist meiner Meinung nach noch nicht abgeschlossen. Die Entwicklung scheint mir vermehrt von der individuellen zur sozialen Resilienz, von der Eindimensionalität, der einfachen „Widerstandskraft“ gegenüber schwierigen Umständen in Richtung Komplexität, Beziehungsintelligenz und sozialer Vernetzung zu gehen: Wie können wir gemeinsam Probleme und Herausforderungen intelligent angehen und kreativ meistern? Welche Ressourcen stehen uns zur Verfügung und welche könnten wir suchen und miteinbeziehen? Wie können Aufgaben in einem Team besser verteilt werden, damit alle beteiligt sind und Erfolge gemeinsam erreicht und gefeiert werden können? Westliche Hochschulen wie beispielsweise die Universität Basel betreiben zusammen mit Universitäten in der Dritten Welt empirische Forschung zu Infrastruktur, sozialem Leben und Gesundheitsrisiken in den Städten Afrikas. Dabei haben sie festgestellt, dass intakte familiäre und soziale Beziehungen sehr viel zu Resilienz von Land- und Stadtbewohnern beitragen und schlechte Lebensbedingungen teilweise kompenisieren und sogar Gesundheitsprobleme wesentlich reduzieren können. Quellen: • Artikel Resilienz (Psychologie) in Wikipedia • Artikel von Samuel Pfeifer in Zeitschrift Diakonie. April 2008 • Einführungsvortrag von Dörthe Huth auf youtube: http://www.youtube.com/watch?v=0N6TaZAisaU • Manfred Spitzer: Digitale Demenz. Droemer, München 2012. ISBN 978-3-426-27603-72012

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