Freitag, Oktober 14, 2011

Olivier Roy: Heilige Einfalt

Der Untertitel sagt bereits etwas mehr über den Inhalt dieses Buches aus: "Ueber die politischen Gefahren entwurzelter Religionen" Es wurde von Ursel Schäfer übersetzt und kam 2010 im Siedlerverlag München heraus. In Französisch heisst es: "La sainte ignorance. Le temps de la religion sans culture." (Ed. Du Seuil Paris 2008).

Zum Autor: Olivier Roy wurde 1949 im französischen La Rochelle geboren. Der Protestant studierte Philosophie, persische Sprache und Politwissenschaft. Als Islamspezialist ist er seit 1984 für die französische Regierung als Berater tätig, er ist weit gereist, hat viel gesehen, gehört und erlebt und daraus interessante Schlüsse gezogen und formuliert. In einer gut verständlichen, schönen und eleganten Sprache legt er seine Erkenntnisse dar. Bereits einige frühere Werke wurden ins Deutsche übersetzt: Der islamische Weg nach Westen; Pantheon 2006. Der falsche Krieg; Siedler 2008.

Zum Buch: Am Anfang definiert Roy, was Kultur eigentlich ist, nämlich die „Produktion von symbolischen Systemen, gedachten Vorstellungen und bestimmten Institutionen einer Gesellschaft.“ Er bringt hier auch den neuen Begriff „religiöse Marker“ ins Spiel: das sind Zeichen, Gesten, Sakralität eines Objekts, eines Bereichs oder einer Person.

Roy stellt die These auf, dass Religion immer auch Kultur produziert, dass sie Sprachen bewahrt, Schrift entwickelt und Kunst inspiriert. Die grossen Offenbarungsreligionen dagegen behaupten von sich eine absolute Unabhängigkeit von der Kultur. Roy meint, dass nicht der Zusammenprall der Kulturen die Quelle der Gewalt sei, sondern „die Dekulturation des Religiösen“ (Seite 152).
Religionen erschaffen profane Kultur, weil sie Werkzeuge schmieden, die danach ausserhalb des religiösen Rahmens verwendet werden. Diese Zweckentfremdung ist letztlich eine Verbeugung vor der Vertrautheit religiöser Bezüge (Seite 168).
Die Entwicklung verlief im Westen von der Religiosität zur Profanität und dann zu einer Art Heidentum, das aber keinen Bezug mehr zum Christentum hat. Ziel der spirituellen Suche ist heute nicht mehr Gott, sondern sind eher postmoderne Religionen. Heidnisch ist das Verschwinden Gottes wie die Suche nach Ersatz (Seite 186).
Die Postmoderne bereitet sich vor zum Aufbruch ins Irrationale, zu gnostischen Vorstellungen, Sekten und New Age. Sie alle versprechen dem Individuum eine kosmische Verschmelzung, nachdem eine gesellschaftliche oder familiäre Symbiose heute weitgehend unmöglich geworden ist. Die Postmoderne bekundet kein Interesse, den transzendenten und inkarnierten Gott kennenzulernen (nach Roland Minnerath).
Es gibt heute vor allem in Europa einen Antiamerikanismus wegen Amerikas Neuheidentum und dem christlichen Fundamentalismus zugleich. Das hat mit dem Bruch zwischen Kultur und Religion und zwischen Religion und Wissenschaft zu tun. Ebenso lehnen Salafisten Kultur weitgehend ab und Evangelikale ignorieren sie. Kultur als solche verschwindet hier und wird durch die religiöse Norm ersetzt. Der religiöse Marker dominiert, eine religiöse Subkultur mit universellem Bezug, Gefühl und Glaube werden viel stärker betont.
Religiöse Wandlung kann aber auch zu Synkretismus, Hybridisierung (Voodoo) oder Widerstand (Gospel) führen. Treffen zwei Religionen aufeinander sind folgende Reaktionen möglich: Dominanz der einen, Entfremdung, Formatierung und Konversion. Die Entkoppelung von religiösen und kulturellen Markern bewirkt, dass man ein religöses Produkt „konsumieren“ kann, ohne die Kultur kennen zu müssen, die es hervorgebracht hat (Seite 222).
Erfolgreiche Religionen haben immer eine Formel für den Export. Sie gründen auf der vollkommenen Ablösung des religiösen Markers vom kulturellen und auf einer Formatierung, die es ihnen erlaubt als universelle Religion aufzutreten (Seite 236).

Fazit: Insgesamt ein sehr informatives, differenziertes Buch. Jeder, der über Kultur und Religion schreibt, ist selber in einer Kultur eingebettet und hat religiöse Wurzeln. Etwas davon legt auch Oliver Roy offen, nämlich seinen eher liberalen, französischen Protestantismus. Konservativere Haltungen dagegen sind ihm suspekt. Dabei unterscheidet er zu wenig zwischen Fundamentalisten, die doch ganz unterschiedliche Ausprägungen haben und gewaltfrei (z.B. Amische, Mennoniten) oder gewalttätig (Jihadisten) agieren können. Dieser Aspekt kommt eindeutig zu kurz.

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