Sonntag, Juni 11, 2006

Herkunft Enneagramm

Im April 06 habe ich mit meiner Arbeitskollegin Ruth Michel einen Enneagrammkurs in der Casa Moscia geleitet. Ich kenne das Enneagramm seit ungefähr 15 Jahren und es hat mich auf meinem geistlichen Lebensweg weitergebracht. Nun habe ich mich erneut bezüglich der Bedeutung, Herkunft, Chancen und Gefahren nochmals schlau gemacht. Nachstehend einige Gedanken dazu:
Der Name „Enneagramm“ ist griechisch und bedeutet neun Buchstaben, neun Punkte, Neuneck oder Neunerfigur. Dass Zahlen eine grössere und tiefere Bedeutung haben können, geht wahrscheinlich auf den Griechen Pythagoras (569-496 vChr) zurück. Der Ursprung und die Herkunft des Enneagramms als Charaktertypologie ist jedoch weitgehend unklar und kann nicht eindeutig zugeordnet werden. Es gibt verschiedene Vermutungen, wenige Ueberlieferungen, Bruchstücke und Vorstufen. Das Alter wird auf ungefähr 2'000 Jahre geschätzt. Als Entstehungsort wird Persien oder Afghanistan angenommen, ein kultureller und spiritueller Schmelztiegel der damaligen Zeit und Welt. Verschiedene Einflüsse waren dort am Werk, für das Enneagramm waren wesentlich:

Frühchristliche: Der Apostel Thomas hat das Evangelium von Jesus Christus ostwärts getragen. Man nimmt an, dass er 53 nChr in Nordindien gewesen war. Die Ausbreitung des christlichen Glaubens erfolgte entlang der Seidenstrasse bis nach Indien und China (gemäss Inschriften ca. 400-600 nChr). Die Nachfolger von Thomas wurden "Nestorianer" genannt, gemäss Nestorius, dem Patriarchen von Konstantinopel 428-431 nChr. Dieser wurde 431 nChr auf dem Konzil von Ephesus als Häretiker verurteilt, weil er Maria nur als Christus- und nicht Gottesgebärerin akzeptieren wollte. Er starb 451 nChr in Aegypten. Die Nestorianer verbreiteten sich ausserhalb des römischen Reiches und hatten eine andere Entwicklung als die westlichen Kirchen durchgemacht. Es gibt sie noch heute, sie nennen sich: Asssyrische, Persische oder Chaldäische Kirche.
Im vierten Jahrhundert wurde das Christentum im römischen Reich zur Staatsreligion. Viele wollten oder mussten Christinnen und Christen werden, jedoch das geistliche Leben wurde oberflächlicher. Das trieb ernsthafte Gläubige aus den Städten in die Wüste Aegyptens, wo sie ein einsames, kontemplatives Leben führten, um in Gott zu ruhen. So entstanden die Wüstenväter, der Georgier Evagrius Pontikus (345-399 nChr) war einer von ihnen. Er sagte: „Ein Gebet, das durch nichts mehr abgelenkt wird, ist das Höchste, das der Mensch zu Wege bringt.“ Aus dem Gebet heraus entwickelte er eine Lasterlehre der sieben respektiv acht Phantasien, Leidenschaften oder Dämonen, die dem Menschen bei seiner Gottsuche im Wege stehen. Die katholische Kirche machte daraus die Lehre der acht Haupt- und der sieben Todsünden. (Gegenüber dem Enneagramm fehlen „nur“ Angst/Furcht und Lüge/Täuschung.)

Sufistische: Die Sufis sind eine mystische Variante des Islams und werden von orthodoxen Moslems teilweise heftig bekämpft. (ararbisch „suf“ bedeutet grobes Wollgewand.) Sie haben einige Elemente aus Judentum und Christentum aufgenommen und in ihr asketisches Leben integriert. Auch haben sie das Enneagramm weiterentwickelt und mündlich überliefert, weil ihnen Gottessuche und Seelenführung der Menschen wichtig waren. Für den Sufi ist das Wichtigste die Liebe, die sich ausdrückt in der Hinwendung zu Gott. Er will Gott nahe kommen, seine Wünsche zurücklassen und „sterben bevor man stirbt“. Er weiss, dass er Gott gegenüber arm ist, ein Derwisch, was Bettler bedeutet.

Im Mittelalter gab es in Europa immer wieder Personen, die sich mit geistlichen Prinzipien auseinandersetzten, die auch dargestellt und gelehrt werden konnten. Erwähnenswert sind der Spanier Ramon Lull, geboren 1232 in Mallorca, der neunteilige Figuren entwarf, die die Eigenschaften Gottes und der Menschen darstellten. Der Engländer Geoffrey Chaucer, 1340-1400, stellte fest, dass es für jede Sünde ein Gegenmittel, Heilmittel, eine Tugend gibt: Demut für Stolz, Gottesliebe - Neid, Geduld - Zorn, Tapferkeit - Trägheit, Barmherzigkeit - Geiz, Nüchternheit - Völlerei und Keuschheit - Buhlerei. Der deutsche Jesuit Athanasius Kircher 1602-80 war ein Universalgelehrter, der unter anderem die Figur der Enneade, was Neunheit bedeutet, entwickelte.

Bis weit ins 20. Jahrhundert wurde das Enneagramm nur mündlich weitergegeben. Dazu waren nur geistliche Lehrer ermächtigt, die es punktuell an ihre Schüler weitergaben, damit diese Wachstumsschritte auf dem Weg zu Gott tun konnten.
Der Armenier Georg Iwanowitsch Gurdjieff (1866-1949) brachte Elemente des Enneagramms, die er in Zentralasien kennengelernt hatte, 1916 aus Afghanistan nach Europa (St. Petersburg und Paris) und übte damit bei seinen Anhängern grossen Einfluss und Macht aus. Er lehrte eher aus Erfahrung und Intuition und weniger systematisch und nachhaltig.

Der bolivianische Psychologe Oscar Ichazo war der Erste, der das Enneagon der Fixierungen, wie er es nannte, 1969 in Arica, Chile, systematisch lehrte. Der Chilene Claudio Naranjo brachte es 1971 in die USA ans Esalen-Institut in Big Sur bei San Francisco. Von dort übernahmen es John Lilly, der Jesuit Robert Ochs, die Psychologin Helen Palmer und viele andere und verbreiteten es in den USA. Nach Erprobung und Prüfung veröffentlichten 1984 der Jesuit Patrick O’Leary zusammen mit Maria Beesing und Robert Nogosek ein erstes Einführungsbuch und machten das Enneagramm in christlichen Kreisen populär. 1989 erschienen erste Bücher in deutsch, unter anderem das Standardwerk „Das Enneagramm“ vom Franziskaner Richard Rohr und dem evangelischen Pfarrer Andreas Ebert.
Heute gibt es drei Hauptrichtungen zu beobachten, die das Enneagramm gebrauchen und verbreiten:
* eine psychologische (humanistische Psychologie und Psychoanalyse, Leitfigur: Helen Palmer)
* eine esoterische (z. B. Arica, Chile und Esalen-Institut in Big Sur, Kalifornien)
* eine christliche (führend erscheinen mir hier nach wie vor katholische Ordensleute in den USA zu sein)

Wichtigste Quellen:
Richard Rohr & Andreas Ebert: Das Enneagramm. Die 9 Gesichter der Seele. Claudius München 1989
www.enneagramm-deutschland.de (Oekumenischer Arbeitskreis Enneagramm e.V. Celle)
www.wikipedia.org/deutsch/enneagramm (empfehlenswertes, aktualisiertes Nachschlagewerk im Web)

Chancen und Gefahren im Umgang mit dem Enneagramm
Es gibt viele Chancen im Umgang mit dem Enneagramm, aber auch einige Gefahren sind zu beachten:
Chancen: Es ist ein Hilfsmittel und Werkzeug zur persönlichen, zwischenmenschlichen und geistlichen Entwicklung und Reifung. Durch Selbstbeobachtung kann ich mich besser kennen, einschätzen und auch gesund begrenzen lernen. Alle neun Gestalten sind gleichwertig, jeder bedarf der Ergänzung durch andere Menschen. Meine Weltsicht ist also nicht die einzige und schon gar nicht die beste. So kann ich andere besser verstehen, wertschätzen, würdigen oder auch nur stehen lassen. Das Enneagramm beinhaltet das grundsätzliche Potential und Dynamik zur Entwicklung und Veränderung der Menschen. Ich beginne meine einschränkenden und zerstörerischen Lebensmuster und meine dunklen Seiten anzuschauen. Ich werde aufgefordert, mich in eine Richtung zu bewegen, die der Integration und Gesundung der Persönlichkeit dient. Ich halte mich dem dreieinigen Gott hin, so dass er mir die Gnade und Kraft gibt zur Veränderung und mich in sein Bild verwandeln kann.

Gefahren: Es ist ein Modell und Wegweiser, nicht die Wirklichkeit an sich! Dies übersehen viele und stülpen das Modell über alle und alles, setzen es gar absolut oder verwenden es als Heilsweg (Tendenz zur Selbsterlösung. Erlösung schafft aber allein Gott!). So kann man es überschätzen, sich zu sehr darauf fixieren und sich auch überheben über andere. Denn Wissen ist Macht und verführt zur Manipulation! Auch Fehleinschätzungen bei sich und anderen sind häufig. Zudem macht das Enneagramm wenig Aussagen zu Alter, Geschlecht und Umfeld. Es ist völlig untauglich für Kinder und wenig geeignet Jugendliche bis 25 Jahren.



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